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Die Dichterin von Aquitanien

Titel: Die Dichterin von Aquitanien
Autoren: Tereza Vanek
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haltmachten, mit einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung. Angeblich kannten die Menschen in Aquitanien, der Heimat Aliénors, weder Zucht noch Ordnung. Frauen durften dort von ihren Vätern erben und wurden nicht einmal für Ehebruch bestraft. Marie wusste, dass sie dies entsetzlich finden sollte, weil es dem Willen des Herrn widersprach. Trotzdem drängte sich immer wieder die sündhafte Frage in ihr Bewusstsein, was schlimm daran sein sollte, eine geborene Siegerin zu sein wie diese Aliénor. Guillaume hatte ihr bisher keine Antwort geben können. Er meinte nur, es sei manchmal nicht gut, zu viel nachzudenken.
    »Vielleicht hätte die Königin Aliénor Adèle geholfen, wenn sie von ihrem Schicksal gehört hätte«, sagte Marie nun. Sie wünschte sich, die schöne Dame wäre noch in Paris, dann hätte sie zu ihr gehen und um Gnade für die Verurteilte bitten können.
    Guillaumes schallendes Lachen schlug ihr entgegen.
    »Glaub mir, Marie, die Königin, egal welches Land sie jetzt beherrscht, hat andere Sorgen, als sich um eine bäuerliche Gattenmörderin zu kümmern!«
    Marie beschloss, dieses Thema nicht weiter zu verfolgen, denn Guillaumes Spott tat weh. Inzwischen hatten sie ihr vertrautes Zuhause erreicht. Die verfallenen Teile der Wände waren vor vielen Jahren durch Holzbalken ersetzt worden,
die allmählich morsch zu werden begannen. Einst schien Guillaume ein einigermaßen fähiger Handwerker gewesen zu sein, doch an diese Zeit konnte Marie sich nicht erinnern. Mittlerweile schob er alle notwendigen Arbeiten vor sich her, verlegte sie von einem Tag auf den nächsten, bis Marie schließlich Pierre um Hilfe bat oder versuchte, dringende Reparaturen selbst vorzunehmen. Als sie über die Türschwelle getreten waren, stieg modrig feuchter Geruch in ihre Nasen. Der große Esstisch glänzte nass. Entsetzt stellte Marie fest, dass ihr verzweifelter Versuch, das Loch in der Decke mit einem Stück Leder abzudichten, dem kurzen, aber heftigen Regenschauer am Vormittag nicht standgehalten hatte.
    Cleopatra, der große grüne Vogel, saß in ihrem geschützten Unterschlupf in der Zimmerecke, wo sie sicher vor dem eindringen Nass geblieben war. Marie legte eine Wolldecke über das Korbgeflecht, das Guillaume einst für sein Lieblingstier gebastelt hatte. Cleopatra stammte aus dem Süden, angeblich hatte ein dunkelhäutiger Gaukler sie Guillaume vor vielen Jahren überlassen, und das nasskalte Wetter tat ihr sicher nicht gut. Der Hund hieß Abélard, so wie jener Philosoph, den Maries Ziehvater bewunderte. Er konnte auf Befehl durch Reifen springen, was bei Dorffesten für gute Einnahmen sorgte, und war dem Regen entkommen, indem er sich unter den Tisch gelegt hatte. Ihr kostbarstes Tier war Jeanne gewesen, eine menschenähnliche, haarige Kreatur, die vor zwei Jahren gestorben war. Marie hatte sie hinter dem Haus begraben. Sie vermisste die witzige, anschmiegsame Jeanne noch mehr als alle Münzen, die allein ihr Anblick in Guillaumes Beutel hatte fallen lassen.
    »Hier sieht es ja nicht gerade gemütlich aus«, sagte Guillaume, als er sich auf einen Stuhl plumpsen ließ. »Damals, als ich mit deiner Mutter in diese Ruine zog, dachte ich schon,
es wäre schlimm. Aber sie war zufrieden, unser Zuhause gefiel ihr. Ich weiß nicht, was sie jetzt noch dazu sagen würde.«
    Marie schluckte ihren Unmut und ergriff stattdessen ein Tuch, um den Tisch abzuwischen. Der Regen hatte zum Glück aufgehört, aber es wurde allmählich Herbst, und bald schon würden sie trotz des Herdfeuers erbärmlich frieren, wenn weiterhin kalte Luft ins Haus drang.
    »Jemand sollte das Dach richten«, meinte sie nur.
    »Ja, ja, das Dach«, seufzte Guillaume. »Haben wir noch Wein im Haus?«
    Marie ging in den Nebenraum, der noch ganz aus Stein bestand und ihre kostbarsten Vorräte beherbergte. Außer der Schiefertafel und Kreide befanden sich dort eine zerschlissene, lateinische Kopie von Ovids Kunst der Liebe und schließlich auch ein Schlauch Wein, den sie vergangene Woche für ihren Ziehvater geholt hatte. Sie wollte ihm nicht eines seiner wenigen Vergnügen missgönnen. Im Vergleich zu anderen Trinkern des Dorfes war Guillaume harmlos. Er wurde niemals gewalttätig, entwickelte nur einen rasenden Redefluss, wobei er jedes Gespür dafür verlor, ob er seine Zuhörer langweilte oder gar empörte. Daher war es besser, wenn er sich zu Hause betrank. Marie leistete ihm dabei gern Gesellschaft. Als ein Laib Brot und etwas Käse vor ihnen auf dem Tisch
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