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Die Dichterin von Aquitanien

Titel: Die Dichterin von Aquitanien
Autoren: Tereza Vanek
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Der Vogt verlas nochmals sein Urteil, beschrieb eine widernatürliche Tat, die gegen alle Gebote des Herrn verstieß. Marie versuchte vergeblich, ihre Ohren zu verschließen. Ein stummer Wutschrei steckte in ihrer Kehle, sie schluckte ihn pflichtbewusst und schämte sich gleichzeitig für ihre Feigheit.
    Es schmerzte sie, dass sie manchmal zu jenen Kindern gehört hatte, die Adèle hänselten, weil sie unfähig schien, die
einfachsten Spiele zu begreifen und bei Scherzen niemals lachte, sondern ebenso verwirrt dreinblickte wie in dem Moment ihrer Hinrichtung. Guillaume hatte Marie erklärt, dass kein Mensch Schuld daran trug, wenn der Herr ihm einen beschränkten Verstand schenkte. Danach hatte sie versucht, Adèle vor dem beißenden Spott der anderen Dorfkinder zu schützen. Seit sie allmählich zu einer Frau heranzuwachsen begann, war Marie weniger schüchtern geworden. Ihre Wortgewandtheit und jene aufregenden Geschichten, die sie dank ihres Lehrmeisters zu erzählen verstand, hatten sie die Anerkennung von Altersgenossen gewinnen lassen, obwohl sie nicht wirklich Teil der Dorfgemeinschaft war, sondern eine Außenseiterin, der Misstrauen entgegenschlug. Aber es war Marie nicht möglich gewesen, Adèle vor den Schlägen einer Mutter zu bewahren, die kein weiteres Mädchen und vor allem kein so begriffsstutziges auf die Welt hatte bringen wollen. Auch nicht vor der Ehe mit einem unbeherrschten Trinker, der seine halbwüchsige Frau noch schlimmer zurichtete, als sie es von klein auf gewohnt war.
    Die schlaffe, leblose Verurteilte musste auf dem Schemel gestützt werden, sonst wäre sie bereits zusammengebrochen, bevor man ihn wegstieß. Danach ließ allein der Strick um ihren Hals Adèle aufrecht in der Luft schweben. Kurz darauf spürte Marie den Druck von Guillaumes Hand an ihrem Arm.
    »Wir können jetzt gehen«, flüsterte er ihr zu. »Es war wichtig, dass wir bei der Hinrichtung anwesend waren, sonst hätten wir dem Vogt und dem Pfarrer zu sehr missfallen. Aber nun ist es vorbei.«
    Marie wandte sich schnell um und folgte ihm mit gesenktem Blick. Sie wollte niemanden sehen, der Adèle gekannt hatte, aber ihr ebenso wenig zu Hilfe gekommen war wie sie selbst.

    Guillaume steuerte entschlossen aus dem Dorf hinaus. Ihr Zuhause lag am Rand des Waldes, ein halb verfallener, steinerner Bau, der noch aus der Römerzeit stammte.
    »Warum lief Adèle nicht fort, nachdem sie Mathieu getötet hat?«, fragte Marie nun, als sie nicht mehr fürchten musste, von den Dorfbewohnern gehört zu werden.
    »Ich glaube, sie verstand nicht, was sie getan hatte. Oder sie sah keinen Ausweg«, antwortete er.
    »Aber«, fuhr Marie hartnäckig fort, »Adèle hat sich zum ersten Mal gewehrt. Zeugt das nun von Verstand oder von Verderbtheit, wie der Vogt meinte?«
    Guillaume blieb stehen. Er grübelte eine Weile, dann meinte er leise: »Von Verstand, denke ich. Aber behalte das für dich. Gott hat ihr einen lichten Moment geschenkt. So wurde sie von ihren irdischen Qualen erlöst. Doch anschließend war der Augenblick des Begreifens wieder vorbei. Wohin hätte das Mädchen auch gehen sollen?«
    Marie begehrte empört auf: »Hättest du ihr denn nicht helfen können? Du kennst die Straßen nach Paris und Saint Denis? Wäre sie doch zu uns gekommen.«
    Guillaume setzte seinen Weg ruhig fort. Sein Blick war auf die Umrisse des Hauses gerichtet, das nun vor ihnen auftauchte.
    »Es gibt keinen Ort, wo sie willkommen gewesen wäre«, meinte er unterdessen. »Eine junge Frau ohne Familie, nicht hübsch genug, um einem edlen Herrn zu gefallen, und ohne jede Gerissenheit, die es braucht, sich in der Welt durchzuschlagen. Ich will nicht wissen, was aus ihr geworden wäre.«
    Er schüttelte den Kopf, dann ergriff er Maries Hand.
    »Vergiss es, Kind. Denke nicht mehr daran.«
    Marie schloss kurz die Augen. Das wunderschöne Gesicht der Dame tauchte wieder vor ihr auf, wie jedes Mal, wenn die Wirklichkeit zu hässlich wurde und sie vor ihr fliehen
wollte. Sie hatte seitdem viele üble Gerüchte über Aliénor, die Herzogin von Aquitanien gehört. Die Ehe des Königs mit dieser verderbten, eitlen, treulosen Frau, die keinen Sohn geboren hatte, war annulliert worden. Allerdings hatte Aliénor schon wenige Monate später Henri, den Grafen von Anjou umgarnt, der nun König von England geworden war. Als dessen Gemahlin war sie mächtiger als in ihrer ersten Ehe. Dies erzählten Pariser Händler und andere Reisende, die unterwegs manchmal in Huguet
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