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Die Bucht des grünen Mondes

Die Bucht des grünen Mondes

Titel: Die Bucht des grünen Mondes
Autoren: Isabel Beto
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all diese Leute schienen zu einem Goldenen Zeitalter zu gehören, das schon vergangen war; vor denen musste sie sich nicht mehr schämen. Julius wandte sich zu ihr um. Sie warf sich in seine Arme. «Küss mich», verlangte sie, und da er verwirrt zögerte, reckte sie sich und presste die Lippen auf seinen Mund.
Ich hätte dich vorhin küssen sollen,
dachte sie
. Als wäre es das Siegel gewesen, das gefehlt hat. Jetzt ist es zu spät.

2. Kapitel
    Natürlich war sie während der dreiwöchigen Überfahrt oft an Deck gegangen. Hatte das Meer bestaunt, seinen Duft genossen und seine Unendlichkeit gefürchtet. Während der fünf, sechs Stunden jedoch, seit das Schiff in das gewaltige Amazonasmündungsbecken hineingefahren war, hatte Amely ihre Kabine nicht verlassen. Soeben hatte ein Steward angeklopft und verkündet, dass man in einer halben Stunde in Macapá anlegen werde.
    Amely schlug das Wörterbuch zu und schwang die Beine über das Bett. «Also gehen wir’s an, Bärbel. Uns bleibt ja nichts anderes übrig.»
    «Ist gut, Frollein.» Das Hansenmädchen, Vollwaise und ein paar Jahre älter als sie, hatte die Lust aufs Abenteuer noch in der Elbmündung verloren, als ihm übel geworden war; und das hatte sich während der Atlantiküberquerung nicht wesentlich geändert. Bärbel machte sich mit bleichem Gesicht und staksigem Gang daran, ihrer beider Besitztümer, die sie in der geräumigen Erste-Klasse-Kabine verteilt hatten, in den beiden riesigen Kabinenkoffern zu verstauen. Amely schnürte sich das Korsett enger und schlüpfte in ihr bordeauxfarbenes Reisekleid. Am Halsausschnitt und den Puffärmeln prunkte es mit schwarzen Volants. Es war das letzte Geschenk ihres Vaters, und sie dachte, dass es in Wahrheit nur das Seidenpapier für das Geschenk war, welches er Kilian zugedacht hatte.
    «Nee, was bin ich froh, hier rauszukommen. Ich bin ja doch eine Landmaus.» Bärbel stöhnte, als sie sich nach den Pantoffeln bückte. Die Schiffsmotoren dröhnten; offenbar begann jetzt das Anlegemanöver. Die Wände neigten sich um eine Winzigkeit.
    «Landratte, heißt das. Und auf Portugiesisch …» Rasch blätterte Amely im Wörterbuch. «Steht nicht drin. Was heißt Schiff?»
    «Navio.»
    «Bullauge?»
    «Vi… vag… Nee, Frollein, ick gloob nich, det man sowas in Manaus wissen muss. Ick werd diese komische Sprache eh nie lernen.»
    «Oh doch, du wirst. Und lass das Berlinern sein. Die brasilianischen Bediensteten in Herrn Kilian Wittstocks Haushalt sprechen ja sicherlich Deutsch, aber mit dir werden sie ihre liebe Not haben. Hilf mir in die Schuhe.»
    «Jawoll, Frollein Amely.» Bärbel brachte die schwarzen Stiefeletten und ging vor ihr in die Knie. Doch plötzlich schlug sie die Hand vor den Mund. «Verzeihung», murmelte sie. «Mir wird wieder schlecht.»
    «Mach das Kabinenfenster auf und atme kräftig durch.»
    Das Mädchen tappte zum Bullauge und riegelte es auf. Die Geräusche einer fremden Welt drangen herein. Lärmende Menschen, Pferdehufe auf Straßenpflaster, die dröhnenden Signale anlegender oder ablegender Schiffe. Amely dachte, dass es doch ähnlich klingen müsse, als öffne man ein Zugfenster beim Einfahren in den Bahnhof Alexanderplatz. Aber es war ganz anders. Natürlich war es das. Die Stimmen waren viel zügelloser als auf den heimischen Straßen. Die Leute schimpften, schrien, lachten, keiften in der fremden Sprache und – verstummten.
    «O mein Gott», keuchte Bärbel.
    Amely erhob sich vom Bett und lief auf Strümpfen zu ihr.
Nichts Schlimmes gleich bei meiner Ankunft
, dachte sie.
Bitte nichts Schlimmes
.
    «Sie sollten das nicht sehen, Fräulein Amely.»
    Amely legte die Hand auf die Schulter des gedrungenen Mädchens und schob es ein Stück beiseite. Sofort brach ihr der Schweiß aus, denn die einströmende Luft war so heiß und schwer zu atmen wie in der heimischen Waschküche. Vom Fluss stieg brackiger Geruch auf, als wühle der Bug eine Latrine auf. Die schwarze, von Algen überwucherte Kaimauer kam heran. Dicht an der Kante standen die Einheimischen. Kinder in Lumpen huschten zwischen ihnen hindurch und scherten sich nicht darum, dass der Abgrund keinen Fingerbreit entfernt war. Maulesel schleppten an Bergen von Kisten, Säcken und Kalebassen; Hunde, mager und dreckig, steckten ihre Schnauzen in alles, was auf dem Boden faulte. Inmitten dieses Gewühls voller Armseligkeit stand eine glänzende Kutsche, als sei sie an den falschen Ort gezaubert worden. Sämtliche Frauen und Männer standen
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