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Die Braut des Vagabunden

Die Braut des Vagabunden

Titel: Die Braut des Vagabunden
Autoren: CLAIRE THORNTON
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versucht, es zu bändigen. Seinen Mantel hatte er ausgezogen, und sein weißes Hemd trug er am Hals offen. Die Bewegungen seines sehnigen Halses während des Gesangs faszinierten sie. Es juckte sie in den Fingern, ihn zu berühren.
    Als ihr diese unschicklichen Gedanken durch den Kopf schossen, errötete sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Viel half es nicht. Sie beobachtete, wie die Muskeln in seinen Unterarmen sich bewegten, als er die Saiten zupfte. Er hat geschickte Hände, dachte sie benommen, während sie zusah, wie seine flinken Finger sich schnell und sicher über den Hals der Laute bewegten. Es war gleichermaßen erregend und beunruhigend zuzusehen, wie er so gekonnt spielte. Im Raum schien es immer wärmer zu werden.
    Da hob er den Kopf und betrachtete sein Publikum. Seine dunklen braunen Augen lagen tief unter schwarzen Brauen. Er hatte eine Adlernase, entsprechend hohe Wangenknochen, und die Bartstoppeln in seinem Gesicht waren mehr als einen Tag alt. Seine Stimme klang wie die eines gefallenen Engels und verlockte sie dazu, alle nur erdenklichen Sünden zu begehen, doch er besaß das Aussehen eines Vagabunden.
    Sein Blick schweifte zuerst über sie hinweg und verhielt dann auf ihrem Gesicht. Er sah ihr in die Augen. Temperance stand da wie erstarrt. Er hatte sie angesehen. Sein Blick schien bis in ihr Herz zu dringen. Eine Woge der Verlegenheit erfasste sie.
    Sie glaubte, einen winzigen Moment lang ein Zögern in seiner Stimme vernommen zu haben. Im nächsten Augenblick war sie aber überzeugt davon, sich das nur eingebildet zu haben, denn er sang selbstsicher weiter – und dabei verzog er die Lippen zu einem kleinen, aber eindeutig überheblichen Lächeln.
    Sie erwachte aus ihrer Erstarrung. Zweifellos war er überzeugt davon, dass jede Frau bei seinem Gesang weiche Knie bekam. Bestimmt war er ein Schürzenjäger und Vagabund, der ohne Bedenken gebrochene Herzen hinter sich ließ. Temperance riss den Blick von ihm los, wütend und verlegen, weil sie für einen Moment seinem Zauber verfallen war. Ihr Bündel mit Waren umklammerte sie so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.
    Sie wollte den Musikanten nicht noch einmal ansehen, aber sie konnte nicht aufhören, ihm zuzuhören. Es war ein verwirrendes, quälendes Vergnügen. Sie wollte ihm zuhören, aber sie wollte nicht zu seiner Überheblichkeit beitragen, indem sie zeigte, dass ihr sein Lied gefiel. Sie betrachtete den Kamin neben ihm und tat so, als beachtete sie ihn gar nicht. Empörenderweise schien seine Stimme auf einmal belustigt zu klingen. Obwohl sich so viele Menschen in dem Schankraum drängten, war sie davon überzeugt, dass er für sie allein sang – und sie auslachte dabei. Es war unerträglich. Sie betrachtete den Kaminsims, hielt den Blick geradeaus gerichtet und hoffte, das Lied würde bald enden. Wie viele Strophen mochte es haben? Sang er überhaupt noch dasselbe Lied, mit dem er begonnen hatte? Oder war er zu einem anderen übergegangen, sodass er ihr Unbehagen beliebig ausdehnen konnte? Sie drehte sich um und sah ihn misstrauisch an.
    Der Kerl hatte den Mut, sie anzugrinsen! Keine einzige Note ließen seine Finger aus, und seine Stimme folgte fehlerlos der Melodie – aber er grinste sie an!
    Wie konnte er das wagen! Das Bedürfnis, ihm eine Ohrfeige zu versetzen, war beinahe übermächtig.
    Neben ihr lachte ein Mann.
    „Jetzt singt Jack Bow nicht nur für ein Abendessen“, meinte er. „Gefällt er Euch, Mädchen? Ihr gefallt ihm mit Sicherheit.“
    „Nein!“ Temperance wehrte entschiedener ab, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Sie sah, wie man sich zu ihr umdrehte, und einige der Männer lächelten.
    Ihre Haut glühte. Sie vergaß, warum sie in die Taverne gekommen war. Sie wollte nur noch dieser peinlichen Situation entfliehen. Gerade als sie sich durch die Menge zur Tür drängen wollte, beendete der Musikant sein Lied.
    Applaus und Pfiffe waren sein Lohn. Einige Männer riefen ihm zu, dass sie ihm ein Ale spendieren wollten. Für einen Moment verlor Temperance ihn aus den Augen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht die einzige Frau in der Taverne war, zu dieser späten Stunde allerdings wohl die einzige respektable. Und sie war nur deshalb hier, weil die Pest, die London im vergangenen Jahr heimgesucht hatte, so schlecht für das Geschäft gewesen war. Inzwischen hatte die Stadt fast wieder zur Normalität zurückgefunden, doch wenn Temperance ihr Geschäft wieder auf ein solides
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