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Die Braut des Vagabunden

Die Braut des Vagabunden

Titel: Die Braut des Vagabunden
Autoren: CLAIRE THORNTON
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die sich tagsüber hier aufhielten, hatten sich längst nach Hause begeben. Gewöhnlich wäre sie so spät nicht unterwegs, doch den ganzen Sommer über waren ihre Geschäfte schlecht gegangen. Sich hier vielleicht einen Handel entgehen zu lassen, das konnte sie sich nicht leisten. Sie lauschte auf verdächtige Geräusche aus der Dunkelheit und umklammerte fest den Stock in ihrer Hand. Ebenso fest hielt sie die sorgfältig verpackten Waren, die sie unter dem anderen Arm trug.
    Abrupt blieb der Junge stehen und hob seine Fackel, um das Schild an der Taverne „Dog and Bone“ zu beleuchten. Das zähnefletschende Tier, das unter dem flackernden Schein sichtbar wurde, erschreckte Temperance so sehr, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.
    „Hier ist es“, sagte der Junge.
    Erleichtert atmete Temperance ein. Auf den zweiten Blick hin erkannte sie, dass das Schild schlecht gemalt war, nicht absichtlich Furcht einflößend. Aber wie auch immer – sie wünschte, ihr Lehrjunge wäre an diesem Nachmittag nicht krank geworden. In den Augen eines möglichen Kunden hätte seine Gegenwart ihren Status erhöht.
    Sie schob ihren Stock durch eine kleine Öffnung an der Seite ihres Rockes und hängte ihn an einen verborgenen Gürtel. Dann nahm sie eine Münze aus der Börse, die ebenfalls unter den Röcken versteckt war, und gab sie dem Jungen. Sie straffte die Schultern und öffnete endlich die Tür zur Taverne.
    Eine dicke Wolke schlug ihr entgegen, es roch nach Wein, Tabak und zu vielen dichtgedrängten Menschen. Temperance trat ein und bemerkte sofort, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Die unangenehmen Gerüche hatte sie erwartet. Doch sie war nicht darauf vorbereitet, einer undurchdringlichen Wand aus Männerrücken gegenüberzustehen. Die Männer hatten sich um etwas geschart, das sie nicht sehen konnte, und hinderten sie daran, weiter in den Raum hineinzugehen. Einen entsetzlichen Moment lang glaubte sie, die anderen würden einen Kampf beobachten.
    Ihr Gespür riet ihr zu gehen. Lieber wollte sie auf den Handel verzichten, als in einen Kampf verwickelt zu werden. Dann bemerkte sie jedoch, dass die Stimmung heiter war. Sie ging weiter und versuchte zu erkennen, was die Männer beobachteten. Groß genug war sie, um den meisten, die ihr die Sicht verdeckten, über die Schulter zu spähen. Nur standen die Männer in mehreren Reihen hintereinander, und immer wieder versperrten Köpfe ihr den Blick.
    Schließlich klopfte sie einem der Männer auf die Schulter. Als er sich umdrehte, machte er vor Überraschung ganz große Augen. Gerade wollte sie ihn fragen, wo der Wirt zu finden sei, da grinste er und sagte: „Kannst nichts sehen, was, Mädchen? Dabei möchte ich wetten, dass dir das Zusehen mehr Vergnügen bereitet als den meisten von uns. Komm weiter.“ Er trat zur Seite, sodass sie an ihm vorbeigehen konnte.
    Einen Moment lang zögerte sie. Es war unklug, sich in die Mitte einer Meute von Fremden zu begeben – ihre Neugier siegte aber schließlich. Sie murmelte einen Dank und nahm das Angebot an. Von ihrem neuen Platz aus erkannte sie, dass die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf einen Mann richtete, der neben dem kalten Kamin saß. Sie hatte gerade die Laute in seinen Händen erspäht, als er zu spielen begann. Sofort verstummte die Menge.
    Zuerst konnte Temperance es nicht glauben. Was war das für ein Musikant, der so kurz vor Mitternacht eine Taverne voll trinkender Männer in seinen Bann zog? Doch sie war von der Musik genauso betört wie alle anderen. Sie reckte sich, um ihn besser sehen zu können, und erkannte einen Kopf mit schwarzem Haar und ein Stück von einem weißen Hemd, ehe sich jemand in den Weg stellte. Dann begann der Musikant zu singen. Zu ihrem Erstaunen überkam sie eine Gänsehaut. Seine Stimme rührte sie in einer so persönlichen und beunruhigenden Weise an, dass ein Teil ihres Selbst am liebsten davongelaufen wäre und sich versteckt hätte. Der restliche Teil wäre nur zu gern noch näher gegangen. Nie zuvor war ihr so etwas passiert. Ärgerlich wegen ihrer unerklärlichen Empfindungen, aber auch nicht in der Lage, der Wirkung, die der Sänger auf sie ausübte, zu widerstehen, schob sie sich nach vorn, bis sie vor allen anderen stand.
    Sie presste ihr Bündel an ihre Brust und starrte den Sänger an. Sein schwarzes Haar reichte ihm fast bis zu den Schultern. Im Schein der Kerzen schimmerte es wie das Federkleid eines Raben, aber es sah nicht so aus, als hätte jemals ein Barbier
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