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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit
Autoren: Iris Anthony
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hatte ich das Muster in meinen Gedanken jedoch auch verändert. Denn die Zeit, die auf ihren Tod folgte, war so … düster. Als sie noch am Leben gewesen war, gab es Worte, nichts als Worte in unserem Haus, doch dann … legte sich die Stille über uns alle.
    Ich konnte mich bloß an zwei Worte erinnern, die mein Vater zu mir gesagt hatte. Möglicherweise hatte er mehr zu mir gesprochen – sicher hatte er das getan, solange meine Mutter noch am Leben gewesen war –, doch die einzigen beiden Worte, an die ich mich erinnern konnte, waren zugleich die letzten beiden Worte, die er zu mir gesagt hatte.
    Leb wohl.
    Diese beiden Worte waren alles, was geblieben war, und sie waren umgeben von Trauer und Schmerz. Sie lasteten schwer auf meinem Herzen. Er starb fünf Jahre nachdem ich ins Kloster aufgenommen worden war. Diese beiden Worte waren alles, was mir von ihm geblieben war, doch zwei Worte reichten nicht aus, um ein Muster zu formen.
    Leb wohl.
    War es eine Bitte gewesen? Ein Wunsch? Eine Hoffnung?
    Vielleicht war es auch eine Art Segensspruch gewesen. Ich weiß es nicht.
    Heilwich, meine Schwester … Nun, sie hatte genügend Worte für uns beide. Und die Worte, die sie mir schenkte, reichten für die ganze Woche zwischen ihren Besuchen. Sie erzählte mir von ihrem Leben, von dem Pater, dessen Haushalt sie führte, und von ihren guten Taten. Ihr Muster erinnerte mich an Torchon-Spitze. Gleichmäßig, immer wiederkehrend. Verlässlich. Robust. Weder raffiniert noch leichtfertig. Ehrenwert und zuverlässig.
    Und ich stellte mir vor, dass ihr Leben genauso war.
    Aber ich hatte nicht nur meine Familie, um Worte zu sammeln. Ich hatte die Menschen, die an der Werkstatt vorbeigingen, vor den Mauern des Klosters.
    Ein Mann kam jeden Tag schreiend die Straße entlang. Er verkaufte Fisch. Und jeden Freitag pries er ihn besonders lautstark an. Zeternd bot er seine Fische feil. Beschrieb, wie groß sie waren, wie frisch sie waren. Er verkaufte Seezunge und Scholle. Aal und Hering. Manchmal kosteten sie mehr, manchmal weniger. Und manchmal verkaufte er etwas, das er Muscheln nannte. Aber nur im Winter. Ich fragte mich, wie diese Muscheln wohl aussahen.
    Und ich fragte mich auch, wie er selbst wohl aussah.
    Seine Worte waren nicht sehr ausgefallen, in etwa wie Mechelner Spitze. Sein Muster war stets dasselbe. Tag für Tag. Fisch für Fisch. Es gab wenige Hohlräume, wenige Löcher, aus denen man auf sein Leben abseits dessen, das er auf der Straße hinter der Mauer führte, schließen konnte. Ich stellte mir vor, dass er wohl mit seinen Fischen aufwachte, mit ihnen arbeitete und von ihnen träumte, während er schlief.
    Mir erging es genauso … Bloß bestimmte natürlich Spitze mein Leben. Ich verstand, wie man ein solches Leben führen konnte. Dennoch fragte ich mich, woher er seine Fische bekam? Diese vielen verschiedenen Fische? Und wie transportierte er sie? Sicher in einem Karren, denn ich konnte hören, wie Räder über die Pflastersteine holperten. Aber … wie genau? Hatte er sie zu einem großen Haufen aufgetürmt? Oder transportierte er sie getrennt in Körben?
    Und wo wohnte er?
    Wie sah seine Kleidung aus?
    Die Hohlräume in seinem Muster waren winzig, aber sie waren dennoch da. Sein Leben geschah auf einer Bühne, die von einem feinen Netz aus Fäden bedeckt wurde.
    Auf der Straße hinter der Klostermauer gab es auch eine Frau, die ständig schrie. Aber sie schrie nicht, um irgendetwas anzupreisen. Sie schrie jemanden an. Handelte es sich dabei um ein Kind? Sie schrie jemanden an, der Pieter hieß und ständig Schwierigkeiten zu machen schien.
    Aber was waren das für Schwierigkeiten?
    War Pieter ein Kind, das ständig mit den Händen die Asche durchwühlte, nur um später den Ruß im Haus zu verteilen? Damit würde er einige Schwierigkeiten bekommen. Die größten Schwierigkeiten, die ich mir vorstellen konnte.
    Dann schrie sie noch jemanden an, den sie Mies nannte. Mies war schuld daran, dass sie sich ständig verspätete.
    Aber wohin kam sie zu spät? Wohin war diese Frau, die scheinbar nichts anderes zu tun hatte, als den ganzen Tag schreiend die Straße hinunterzulaufen, unterwegs? Was tat Mies, das dazu führte, dass sie sich verspätete? Und wie schaffte es Mies, diese Sache jeden Tag und immer wieder zu machen? Und warum hielt die Frau ihn nicht davon ab?
    Diese Frau war mir ein Rätsel. Es befanden sich riesige Hohlräume im Muster ihres Lebens. Ihre Spitze war eine Durchbrucharbeit. Weder anmutig
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