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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit
Autoren: Iris Anthony
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noch zart. Ohne Raffinesse und furchtbar kräftig. Ein Muster ohne Eleganz, das sich ständig wiederholte. Diese Art von Spitze mochte ich am wenigsten.
    Es gab jedoch noch andere Menschen draußen auf der Straße. Ich konnte sie vorbeigehen und vorbeilaufen hören. Und ich konnte ihre Stimmen hören, wenn sie miteinander sprachen. Doch diese Menschen schrien nicht, und so blieben mir die einzelnen Worte, die sie sagten, verborgen.
    Ich hörte kleine Kinder weinen.
    Und einmal gab es einen gellenden Schrei. Ein Heulen.
    Der wortlose Klang der Trauer, wie schwarze Spitze. Die schlimmste Sorte von allen. Die Art von Spitze, die ich als Kind kurz nach meiner Ankunft im Kloster hergestellt hatte. Nachdem die Spitze dunkel gefärbt wurde, konnte man die Flecken darauf nicht mehr erkennen. Wir konnten Fehler machen, denn die Farbe überdeckte unsere Sünden. Die Herstellung ging schnell vor sich, obwohl wir niemals einen Auftrag dafür erhielten. Diese Spitze war für den unmittelbaren Gebrauch bestimmt. Denn wer wusste schon im Vorhinein, wann eine Seele sterben würde?
    Niemand dachte über diese schwarze Spitze nach – niemand schien darüber nachdenken zu wollen –, doch irgendwie schienen wir nie genug davon produzieren zu können. Aber eine Spitze herstellen zu müssen, die eigentlich niemand haben wollte? Diese Tage, diese Spitze … Es war so traurig. So traurig wie das Heulen auf der Straße.
    Ich glaube, es gibt Zeiten, zu denen ein einziges Wort, der wortlose Klang einer Stimme, ein Muster erschaffen kann. Dieses Geräusch kann eine Geschichte erzählen … aber manche Spitzen sind es nicht wert, sich über sie Gedanken zu machen.
    Es war besser, viel besser, meine Gedanken auf das zu konzentrieren, worüber ich Bescheid wusste. Und das, worüber ich am besten Bescheid wusste – das Einzige, worüber ich Bescheid wusste –, war Spitze. Das Kloster war so barmherzig gewesen und hatte mich als Kind aus einer mutterlosen Familie aufgenommen, obwohl ich nicht in der Lage gewesen war, ihnen auf irgendeine Art von Nutzen zu sein. Sie gaben mir zu essen, sie lehrten mich mein Handwerk. Sie gaben mir die Möglichkeit, meine Schuld zu begleichen. Ihnen zu beweisen, dass ich des Lebens, das sie mir geschenkt hatten, würdig war. Und so arbeitete ich. Ich arbeitete hart, um mich nicht schämen zu müssen. Nee: Ich musste mich nicht schämen. Denn wenn Gott einen Blick auf das herabgeworfen hätte, was ich geschaffen hatte, dann konnte er sicher nur eines sagen: Gut gemacht.
    Ich strengte meine Augen an, um in der Dunkelheit einen Faden vom anderen unterscheiden zu können … Ich schaffte es nicht. Bald schon würde man uns erlauben, eine Kerze zu entzünden, doch in der Zwischenzeit tanzten die Elfen weiter. Mein fehlendes Augenlicht konnte ihnen keine Hilfe bieten, doch es behinderte sie auch nicht. Und während wir arbeiteten, warteten wir. Wir warteten voller Vorfreude, genauso wie wir in der Kirche auf das Abendmahl warteten.
    Bald schon stellte eine Schwester eine Kerze vor uns auf den Tisch. Dann begann sie, die Lichtverstärker zu verteilen. Durchsichtige, mit Wasser gefüllte Glasschüsseln, die das Licht der Kerze auffingen und reflektierten. Sie schritt um den Tisch herum und richtete die Schüsseln so aus, dass ein schwacher Lichtstrahl auf jedes Kissen fiel.
    Wir waren außerordentlich dankbar und drehten unsere Kissen ins Licht der Kerzen.
    Als mein Augenlicht noch intakt gewesen war, war es mir viel schwerer gefallen, nach Einbruch der Dunkelheit weiterzuarbeiten. Ich musste die Position des Kissens ständig verändern, um dem Licht der flackernden Kerze zu folgen. Nun spielte das alles keine Rolle mehr. Ich konnte in der Dunkelheit arbeiten, als handelte es sich um den sonnigsten Tag. Ich kannte mein Muster auswendig. Dennoch musste ich mich konzentrieren.
    Wenn ich zu viel nachdachte, dann brachte ich die Spulen durcheinander. Wenn ich zu wenig nachdachte, dann verlor ich meinen Platz im Muster. In meinem Kopf sang ich ein Lied, das die Schwestern uns vorgesungen hatten, als ich noch ein kleines Kind gewesen war. Und bald schon tanzten die Spulen wieder voller Anmut in ihrem eigenen Rhythmus.
    Ich sang mir das Lied immer und immer wieder vor. Ich weiß nicht, wie oft ich es wiederholte, bis die Schwester schließlich jenes eine Wort verlauten ließ: Genug.
    Meine Gebete blieben in dieser Nacht wortlos.
    Mein Abendmahl geschmacklos.
    Mein Schlaf traumlos.

Kapitel 2
    Heilwich Martens
    Kortrijk,
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