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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit
Autoren: Iris Anthony
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es nicht ist. Wenn, wie die Nonnen behaupteten, der Glaube das Wesen jener Dinge ist, auf die man hofft, dann ist Spitze der Umriss, die Vorstellung dessen, was man nicht sieht.
    Spitze war mein Leben. Mein Trost. Es war die Spitze, die meinem Leben einen Sinn gab. Und während ich meine komplizierten Muster erschuf, befand ich mich gleichzeitig auf dem Weg zur Erlösung. Seit fünfundzwanzig Jahren stellte ich nun Spitze her. Seit fünfundzwanzig gesegneten Jahren.

    Während ich mit meinem Arbeitskissen auf dem Schoß dasaß, vollführten die Fäden ihren komplizierten Tanz. Sie hüpften und sprangen um die Stecknadeln herum. Jeder Satz Spulen klapperte in seinem eigenen Rhythmus, bevor ich ihn auf das Kissen fallen ließ und den nächsten aufnahm. Ein Drehen. Ein Kreuzen. Und mehr als zweihundert Fäden tanzten im Kreis, bevor ich den letzten Satz fallen ließ und wieder mit dem ersten begann.
    Es versetzte mich in Erstaunen, so wie es mich stets in Erstaunen versetzt hatte. Hier saß ich Tag für Tag mit meinen Spulen, und sie vollführten ihren Tanz, ohne dass ich ihnen großartig zu Hilfe kam. Wie die Feen, von denen mir meine Schwester immer erzählt hatte, vollbrachten sie ihre Magie unbeirrt und scheinbar ohne Beistand der menschlichen Hand. Dennoch leitete und bewegte ich sie. Sie bewegten sich rein auf meine Anweisungen hin. Doch sobald ich sie einmal in Bewegung gebracht hatte, schienen sie alleine zu tanzen. Und ich saß jeden Tag atemlos da und sah ihnen dabei zu. Ich wartete darauf, was sie wohl erschaffen würden.
    Natürlich wusste ich es.
    Sie würden dieselbe Spitze erschaffen, die sie jeden Tag erschufen. Jene Spitze, die nach dem Kloster benannt worden war: Lendelmolen. Es war die einzige Art von Spitze, die zu erschaffen man uns gelehrt hatte. Zwar hatten wir andere Stoffe gesehen; die Schwester hatte sie uns gezeigt, damit wir verstanden, wie außergewöhnlich unsere Muster waren. Doch diese eine Spitze, diese Stoffbahn, war etwas anderes. Sie war so unglaublich lang. Fünfeinhalb Meter. Die erlesenen Schnecken, Rosen und Blätter waren von einem Musterzeichner auf Pergament gemalt worden. Die Stecknadeln bildeten nun die Vorlage und übertrugen das Muster auf mein Kissen.
    Aber es machte einen Unterschied, zu wissen, was die Spulen erschaffen würden, und ihnen dabei zuzusehen, wie sie es bewerkstelligten. Denn erst wenn man ihnen dabei zusah, erkannte man die Magie, die allem innewohnte.
    Natürlich sprach ich nie von dieser Magie. Nicht mit den Nonnen.
    Mit niemandem.
    Ich durfte nicht sprechen. Niemals. Nicht innerhalb der Klostermauern. Es sei denn, ich sprach zu Gott. Und selbst dann musste ich flüstern. Denn unser Gott war ein eifersüchtiger Gott. Er brauchte unsere Hände. Er brauchte unsere Gedanken … und unsere Stimmen. Sie gehörten ihm. Alles gehörte ihm. Jeder Teil von uns.
    Und warum hätte es anders sein sollen?
    Dennoch … ich hatte noch nie Mathilds Stimme gehört. Und ich saß seit fünfundzwanzig Jahren in der Werkstatt neben ihr.
    Die ersten Jahre, die Lehrjahre, waren die schwierigsten gewesen. Wir mussten lernen, welche Erwartungen an uns gestellt wurden und welche nicht. Wir mussten lernen, die Schwester, die die Aufsicht innehatte, zufriedenzustellen. Wir mussten lernen, wie man es vermeiden konnte, geschlagen und ausgepeitscht zu werden.
    Der Augenblick, als ich zum ersten Mal ausgepeitscht wurde … Er war so unerwartet gekommen und auf so grausame Art über mich hereingebrochen. Anlass war eine Sünde gewesen, die nicht schwerer gewogen hatte, als dass jemand ein Kissen zu Boden fallen ließ oder eine Masche übersehen hatte. So bösartig und so grausam. Ein Mädchen wurde bis zur Hüfte entkleidet und vor uns der Strafe unterzogen. Vor unser aller Augen.
    Ich vermute, dass es wohl seinen Zweck erfüllt hat.
    Es brachte uns dazu, uns zu konzentrieren. Doch es war unvermeidlich, dass auch ich mein Kissen fallen ließ. Dass auch ich eine Masche übersah. Dass auch ich vom Muster abkam. Ich dachte nicht oft an diese Zeiten zurück, die so viel Trauer, so viel Kummer bedeuteten. Einmal hatte ich bei der heiligen Muttergottes selbst Schutz gesucht und mich hinter ihrer Statue in der Kapelle versteckt. Ich konnte von Glück sagen, dass ich die Schläge, die ich bekam, nachdem man mich hervorgezogen hatte, überlebte. Doch damals, während dieser düsteren Tage und einsamen Nächte, lernte ich, mich nützlich zu machen. Damals erfuhr ich das Geheimnis der Spitze.
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