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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit
Autoren: Iris Anthony
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Hinweis für den Leser
    Das 17. Jahrhundert war das Zeitalter von Musketieren und unermesslichem königlichem Reichtum. Aber es war auch ein Zeitalter, das von Armut, Verzweiflung und unvorstellbaren Grausamkeiten geprägt war. Es gab jene Menschen, die Spitze erzeugten – und jene, die sie trugen. Während einige Menschen einen unglaublich hohen Preis für das Privileg, Spitze zu erwerben, zahlten, wurden andere gezwungen, diese unter schlimmsten Bedingungen herzustellen.
    Mädchen wurden mit sieben Jahren ins Kloster geschickt, um das Handwerk zu erlernen. Sie arbeiteten stundenlang ohne Feuer, ohne Licht, da Asche und Ruß die Spitze hätten verschmutzen können. Es kam selten vor, dass eine Spitzenmacherin mit dreißig Jahren noch nicht erblindet und buckelig von ihrer Arbeit geworden war.
    1636 untersagte König Ludwig XIII. von Frankreich den Besitz jeglicher Spitze, unabhängig davon, ob im In- oder Ausland hergestellt. Nannte jemand augenfällig Spitze sein Eigen, so wurde diese konfisziert, und der Besitzer musste mit einer Geldstrafe von sechstausend Livre und der Ausweisung aus dem Königreich für fünf Jahre rechnen.
    Mehr als zwei Jahrhunderte lang wurde Spitze quer durch Europa geschmuggelt. Dabei agierten die Schmuggler sehr erfinderisch und benutzten ausgehöhlte Brotlaibe, Särge und auch Hunde, um Spitze von Flandern nach Frankreich zu importieren. Im Laufe von fünfzehn Jahren wurden mehr als vierzigtausend Hunde bei dem Versuch, über die Grenze zu gelangen, von Kopfgeldjägern getötet.
    Obwohl Spitze aus vielen einzelnen Fäden hergestellt wird, sind dennoch nur zwei einfache Bewegungen vonnöten: das Drehen und das Kreuzen. Diese Geschichte gleicht einem Spitzenstoff: Sie besteht aus zahlreichen Fäden, die zunächst aufeinandertreffen und sich schließlich miteinander verflechten, indem man sie dreht und kreuzt. Versuchte man einen Faden von Anfang bis Ende der Geschichte gesondert zu verfolgen, würde dies dazu führen, das Gesamtmuster nicht zu erkennen. Genauso wie es unmöglich wäre, die Schönheit einer Spitze zu erfassen, würde man nur einem einzigen Fadenverlauf folgen.

1636
Während der Herrschaft König Ludwigs  XIII ., genannt »Der Gerechte«
    Kapitel 1
    Katharina Martens
    Lendelmolen, Flandern
    E s war nun zwei Monate her. Zwei Monate, seit meine Augen mich verraten hatten. Die Dunkelheit war so beständig über mich hereingebrochen, dass ich keine Angst, keine Panik verspürt hatte. Selbst jetzt konnte ich noch Umrisse und Farben erkennen. Obwohl Einzelheiten und Struktur meiner Spitze nun für immer für mich verloren waren, offenbarten mir meine Finger, was meine Augen mir nicht mehr verraten wollten.
    Ich hatte ein unendliches Muster aus in sich verschlungenen Rosen und Blättern gewoben, das von einer Schneckenverzierung umrandet wurde. Ich verbrachte jeden Tag zwischen diesen Blüten und verlor mich zunehmend im Labyrinth der Schnecken. Jeden Tag, seit mehr als drei Jahren. Es brauchte Zeit, einen Spitzenstoff herzustellen, der so lang und zart war wie dieser.
    Ich krümmte meine Zehen in den Holzschuhen. Zumindest glaubte ich es, denn ich konnte sie nicht mehr spüren. Die Herbstkälte hatte sie taub gemacht. Ich rutschte auf der Bank hin und her und hoffte, dadurch etwas Leben in meine Zehen zurückzubringen. Wenn es mir jetzt nicht gelang, dann würden sie wohl erst kribbelnd wieder aufwachen, wenn ich mich von der Werkstatt aus auf den Weg zur Kapelle machte. Und wenn ich schließlich mit den Gebeten fertig sein würde, dann würden sie sich wieder normal anfühlen. Im Winter war es noch schlimmer. Denn dann erwachten sie aus ihrem Schlaf mit heißen, dumpfen Schmerzen.
    Herbst.
    Winter.
    Frühling.
    Sommer.
    Die Jahre drehten sich im Kreis, wie sich auch meine Spulen und die Muster im Kreis drehten. Eine Jahreszeit. Ein Satz Spulen. Eine Rose nach der anderen. Und am Ende fand ich mich stets am Anfang wieder. Als Kind, angewiesen auf die Gnade des Klosters, war ich eine stümperhafte Anfängerin gewesen. Doch nun konnte ich mich eine kunstfertige Spitzenmacherin nennen.
    Spitze besteht aus einem Faden. Aus vielen Fäden. Sie werden gedreht und gekreuzt, in Schlingen gelegt, verknotet und verwoben. Doch Spitze entsteht erst durch die Abwesenheit von Stofflichkeit; sie entsteht aus der Bildung von Löchern und Lücken zwischen den Fäden. Eine Spitze ähnelt der Hoffnung. Sie lebt, sie überlebt und sie wird begehrt für etwas, das sie zu sein scheint, obwohl sie
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