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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit
Autoren: Iris Anthony
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Und wie konnte ich wirklich der Verzweiflung anheimfallen, wenn jeden Tag beim Aufwachen mein erster Gedanke war, dass in der Werkstatt meine Spitze auf mich wartete?
    Ich konnte jede Schelte überstehen, sämtliche Schläge aushalten, da ich wusste, dass meine Spitze immer für mich da war. Es machte mir nichts aus, dass mein Hintern schmerzte und mein Rücken blutig geschlagen wurde, solange meine Finger gesund genug waren, um zu arbeiten, und solange ich nach wie vor sehen konnte. Am schlimmsten war, wenn sie uns auf die Knöchel schlugen, denn dann mussten wir blutend und verletzt in der Werkstatt bleiben, obwohl es uns verboten war, weiterzuarbeiten. Wenn die Bestrafung aufgrund eines Fehlers erfolgte – weil ich mich nicht genügend konzentriert hatte, weil ich es nicht geschafft hatte, die Spitze sauber zu halten, weil ich nicht gut genug gearbeitet hatte –, dann bot mir die Spitze selbst auf ihre Art eine Wiedergutmachung.
    Zuzusehen, wie sie entstand.
    Zuzusehen, wie sie sich entwickelte.
    Einen Blick auf das Muster zu erhaschen, das sich so makellos vor mir ausbreitete.
    Ich wäre lieber zu Tode geprügelt worden, als dass man mich von meiner Arbeit ferngehalten hätte.
    Doch das war zu einer Zeit gewesen, als ich noch sehen konnte. Nun blieb mir auch diese einsame Freude verwehrt.

    Nun, wo ich darüber nachdachte, fiel mir ein, dass ich in dieser ersten Zeit im Kloster vielleicht ein- oder zweimal Mathilds Stimme gehört hatte. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, was sie gesagt hatte. Miteinander zu sprechen zog eine gewisse Strafe nach sich, und so vermieden wir jeglichen Augenkontakt, um nicht in Versuchung zu geraten. Wir begannen sogar, mit dem Arm über dem Gesicht zu schlafen … um selbst im Schlaf zu verhindern, dass wir uns versündigten.
    Doch ich hatte Mathild lächeln gesehen.
    Und ein einziges Mal hatte sie mir sogar zugezwinkert.
    Aber sprechen? Ich konnte mich kaum noch an die wenigen Worte erinnern.
    Wann hätten wir miteinander sprechen sollen? Während der Gebete flüsterten wir Gott unsere Bittgesuche zu. Während der Mahlzeiten aßen wir. Im Waschraum wuschen wir uns. Und wenn wir arbeiteten? Die Herstellung der Spitze verlangte alles von uns ab. Und wenn wir schließlich todmüde in unsere Betten fielen, dann regte sich nichts mehr in uns, und der Schlaf brach sofort über uns herein.
    Natürlich hatte ich andere sprechen gehört.
    Die Nonnen unterhielten sich ständig miteinander.
    Ich kannte die Stimme meiner Lehrerin, Schwester Maria-Clementia. Sie sprach sehr wenig, doch wenn sie sich über mein Kissen beugte und meine Spitze begutachtete, dann klang ihr »Gut gemacht!« wie ein aus Tausenden Worten bestehendes Lied. Und ihr »Überarbeite das hier!« hallte manchmal noch tagelang durch meinen Kopf. Es gab keinen Grund, viele Worte zu gebrauchen. Nicht, wenn einige wenige ausreichten. Und selbst wenn ich zu Gott sprach, gab es wenig zu sagen. Ich sagte: »Danke«, denn er war es gewesen, der mich hierhergebracht hatte. Ich sagte: »Bitte hilf mir«, denn wer benötigte keine Hilfe bei einer solch schwierigen Arbeit? Meist sagte ich jedoch einfach … nichts. Denn was konnte ein armes Mädchen dem großen und heiligen Gott schon sagen, außer, dass es dankbar war?
    Dennoch hatte ich … ein Geheimnis.
    Ich sammelte Worte. Ich bewahrte sie in meinem Inneren auf, ich hütete sie wie einen Schatz.
    Worte waren mein Laster. Meine größte Schwäche. Seit ich bemerkt hatte, wie selten sie waren, erinnerte ich mich an jedes einzelne, das ich jemals gehört hatte.
    Sie schufen ein Muster in meinem Kopf, und in dem leeren Raum zwischen den Worten stellte ich mir vor, wie das Leben der Menschen, die sie gesprochen hatten, wohl aussah. Ich bedauerte zutiefst, dass ich mich an so wenige Worte meiner Mutter erinnern konnte. Doch damals, als sie noch am Leben gewesen war, hatte ich nicht wissen können, dass sie mir so wenige kostbare Worte würde schenken können.
    Sie hatte oft mit mir gesprochen … so viele wunderbare Worte. Manchmal hörte ich sie in meinen Träumen, und sie erschienen mir wie eine Bahn Punto in Aria-Spitze. Ein großer Hohlraum und dann plötzlich die Umrisse eines verschachtelten Musters, das aufgrund seiner Klarheit nur umso schöner war. Ihre Worte waren so sanft gewesen wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Sie tanzten ständig um mich herum. Und wurden stets von einem Lachen begleitet. Zumindest … erschien es mir im Nachhinein so.
    Vielleicht
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