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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren
Autoren: Boris Akunin
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aus dem Lauf heraus einen Satz und knallte dem Magister mit voller Kraft die harte Faust in die Zähne.
    »Wofür?!«, heulte Nicholas auf und bedeckte den schmerzenden Mund mit der Hand.
    »Für alles!«, brüllte die rasende Tatarin wütend. »Dafür, dass du weggelaufen bist und dich nicht gemeldet hast! Für meine Tränen! Für die hundert Dollar! Für die ›klasse Nummer‹!«
    Fandorin sah aus den Augenwinkeln, dass die Sekretärinnen hinter ihren Schaltpulten zur Salzsäule erstarrt waren.
    »Aber das habe ich doch absichtlich geschrieben!«, brüllte er zurück, weil sie es sonst nicht gehört hätte. »Zur Tarnung!«
    Altyn stemmte die Arme in die Seite und maß ihn mit einem vernichtenden, hasserfüllten Blick von den Füßen bis zum Scheitel.
    »Totschlagen müsste man dich für so eine Tarnung, das wäre das Mindeste! Da mache ich mir wie eine dumme Gans Sorgen, dass er Hunger hat, rufe meine Mutter an und bitte sie, ihm etwas zu essen zu bringen! Sie kommt an – da liegt ein charmantes Zettelchen und hundert Dollar! Na, da hatte ich hinterher eine nette Besprechung mit ihr!«
    Sie versetzte dem Magister noch mal einen Schlag, diesmal in den Bauch. Zwar schwächer, aber trotzdem schmerzhaft.
    »Und das ist dafür, dass ich nicht eine einzige Nacht ruhig geschlafen habe. Hättest du nicht anrufen können? Ich habe gedacht, du lebst nicht mehr. Habe gedacht, die Eulen haben das Igelchen gefressen!« Altyn stieß einen seltsamen Laut aus, der zwar einem Schluchzen glich, aber ihre schwarzen Augen blieben dabei trocken und genauso unversöhnlich. »Da hocke ich hier wie eine Geisteskranke, mit einem Messer im Rucksack. Ich wollte diesem Fettwanst Sosso deinetwegen den Bauch aufschlitzen!«
    Sie schluchzte genauso weiter, ohne Tränen, warf sich zurück in den Sessel und holte ein Brotmesser aus dem Rucksack, das Fandorin aus der Wohnung in Beskudniki kannte. Die eine Sekretärin stieß einen Schrei aus, die andere sprang auf und streckte ihre Hand nach einem roten Knopf aus, der unauffällig über dem Tisch an der Wand angebracht war.
    Nicholas schämte sich unsäglich. Was war er doch für ein Egoist! Ja, er hatte angerufen, hatte ihre Stimme gehört, sich davon überzeugt, dass sie lebte, und hatte es dabei bewenden lassen. Und wie erging es ihr dabei? Daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Andererseits, hätte er denn ahnen können, dass Altyn wegen eines Briten, der weder Fisch noch Fleisch war, nicht schlafen konnte und sogar einen Mord plante?
    Fandorin ging auf die kleine Journalistin zu und sagte mit zitternder Stimme:
    »Ich habe mich dir gegenüber so schlecht benommen. Wirst du mir das je verzeihen können?«
    »Nein!«, antwortete sie wütend. »Niemals! Bück dich mal, ich wische dir das Blut ab. Das sieht ja widerlich aus.«
    Während sie Nicholas nicht übermäßig zärtlich mit einem Tuch über die blutigen Lippen fuhr, schielte er irritiert zu den unfreiwilligen Zeugen dieser afrikanischen Szene und sah, dass die junge Sekretärin die Augen ganz weit auf gerissen hatte, während die andere, die mit den Platinhaaren, die Hand von dem Knopf wegzog und ihm irgendwelche Zeichen machte: Sie flüsterte etwas, nickte – ermunterte ihn gleichsam oder trieb ihn sogar an. Zu was eigentlich?
    Er blickte auf Altyn. Sie war so klein, aber auch so gefährlich und unerbittlich. Er murmelte kleinmütig:
    »Wie sollen wir denn dann . . . ?«
    Er wollte sagen »in Zukunft«, hatte aber nicht weitergesprochen, weil sie ja selber gesagt hatte, sie könne ihm das nie verzeihen. Also konnte es auch keine Zukunft für sie geben. Eine Vorstellung, die ihm plötzlich einfach unerträglich vorkam.
    Die Antwort war unerwartet. Ja, man könnte sogar sagen, rätselhaft.
    Altyn betrachtete taxierend die vollen zwei Meter, die Nicholas groß war, wiegte den Kopf und sagte seufzend:
    »Ja, das wird schwierig werden, aber macht nichts, das kriegen wir beide schon irgendwie hin.«
    Nicholas glaubte, er habe sich verhört oder – aufgrund seiner Verdorbenheit und überbordenden Fantasie – etwas falsch verstanden, aber er hörte von hinten ein Prusten.
    Die junge Sekretärin hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. Die andere dagegen schaute den baumlangen Magister und die kleine Brünette mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, in dem sowohl Verträumtheit als auch Trauer lag.
    Altyn nahm Fandorin bei der Hand und sagte:
    »Komm, Nick, wir haben das Publikum jetzt genug unterhalten. Wir fahren nach
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