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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren
Autoren: Boris Akunin
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lang geraten.
    Er wusste selber nicht, warum er einen solchen Umweg für seine Reise nach Russland gewählt hatte: mit dem Schiff bis Riga und von da aus mit dem Zug. Es wäre entschieden einfacher und billiger gewesen, sich in Heathrow in ein Flugzeug zu setzen, schon drei Stunden später auf dem Flughafen Scheremetjewo, der laut »Baedeker« nur 20 Autominuten von Moskau entfernt ist, einzutreffen und russischen Boden zu betreten. Aber der Ahnherr der russischen Fandorins, Hauptmann Cornelius von Dorn, hatte vor dreihundert Jahren nicht das Flugzeug nehmen können. Genauso wenig wie den Zug. Dafür hatte von Dorn aber zumindest in etwa die gleiche Route nehmen müssen: vermutlich hatte er das unruhige Polen auf dem Seeweg umschifft, war in Mitan oder Riga an Land gegangen und hatte sich einer Handelskarawane angeschlossen, die in die Hauptstadt der wilden Moskowiter zog. Wahrscheinlich hatte der Ahnherr im Jahre 1675 ebenfalls diesen trägen, unter der Brücke glitzernden Fluss überquert. Und war gespannt gewesen auf die Begegnung mit diesem unbekannten halbmythischen Land – genauso wie es Nicholas jetzt erging.
    Sein Vater hatte gesagt: »Es gibt kein Russland, Nicholas, es gibt einen geografischen Raum, wo sich früher ein Land mit diesem Namen befunden hat, aber die Bevölkerung dieses Landes ist ausgestorben. Jetzt leben die Ostgoten in den Trümmern des Kolosseums. Sie machen da Feuer und weiden ihre Ziegen. Die Ostgoten haben ihre Bräuche, Sitten und eine eigene Sprache. Damit haben wir Fandorins nichts zu tun. Lies die alten Romane, hör Musik, blättere in den Alben. Das ist dein und mein Russland.«
    Die heutigen Bewohner des russischen Staates nannte Sir Alexander »neue Russen«, und das schon lange, bevor sich diese Bezeichnung für die jetzigen Neureichen eingebürgert hat, die auf Teufel komm raus Anzüge bei teuren Schneidern in der Saville Row in London bestellen und ihre Kinder in die besten Privatschulen schicken (nicht in die allerbesten natürlich, sondern in die, in denen einziges Aufnahmekriterium das Geld ist). Für Fandorin senior waren schon alle Bewohner des Sowjetlandes »neue Russen« gewesen, denn sie hatten kaum etwas mit den »alten Russen« gemein.
    Sir Alexander, eine Koryphäe der Endokrinologie und dringend nobelpreisverdächtig, pflegte sich nie und in nichts zu irren, deshalb hielt sich Nicholas in der Tat bis zu einem gewissen Zeitpunkt an den Rat seines Vaters und mied die Heimat seiner Vorfahren tunlichst. Umso mehr als es ihm wirklich entschieden einfacher und angenehmer vorkam, Russland aus der Ferne zu lieben. Das Spezialgebiet, das er gewählt hatte, die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, erlaubte es Fandorin junior, dieses lichte Gefühl keinen riskanten Prüfungen zu unterwerfen.
    Das Russland des vorigen Jahrhunderts wirkte durchaus anständig, besonders in der zweiten Hälfte. Zwar waren auch unter der Ägide des Doppeladlers nicht wenig Scheußlichkeiten geschehen, aber diese blieben im Rahmen der europäischen Geschichte und waren daher vertretbar. Und da, wo der Anstand endete und die sinnlose russische Rebellion die Oberhand bekam, endete auch die Sphäre von Nicholas Fandorins professionellem Interesse.
    Was am meisten an dem Verhältnis fasziniert, das den Magister der Geschichte mit Russland verband, ist, dass es absolut platonisch war – der ritterliche Minnedienst an der Herzensdame schließt ja ebenfalls die körperliche Nähe aus. Solange Nicholas Student und Doktorand war, wirkte seine Distanz zum »Reich des Bösen« gar nicht so befremdlich. Damals, in der Zeit des Krieges mit Afghanistan, des abgeschossenen koreanischen Linienflugzeuges und des in Ungnade gefallenen Erfinders der Wasserstoffbombe, Sacharow, konnten viele Slawisten bei ihren Forschungsprojekten nur auf Bücher und auf die Archive von Emigranten zurückgreifen. Aber dann begann der böse Zauber, der die eurasische Macht gefangen hielt, allmählich zu weichen. Das sozialistische Reich geriet ins Schlingern und brach mit toller Geschwindigkeit entzwei. In wenigen Jahren schaffte es Russland, in Mode zu kommen und flugs wieder unmodern zu werden. Eine Reise nach Moskau galt nicht mehr als Abenteuer, und der eine oder andere ernsthafte Wissenschaftler legte sich sogar eine eigene Wohnung am Kutusow-Prospekt oder im Südwesten der Stadt zu; nur Nicholas hielt nach wie vor sein Gelübde, dem früheren Russland treu zu bleiben, und beobachtete das neue, sich so schnell verändernde
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