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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren
Autoren: Boris Akunin
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geschickt, wo die Überreste der Galionsfiguren der spanischen Armada vermodern. Trotz seines Alters war Sir Alexander in bester körperlicher Verfassung und hätte mit Sicherheit zu den geretteten Glückspilzen gehören können, aber sich vorzustellen, wie der Vater die anderen Fahrgäste wegstieß, um sich oder Lady Anna zu retten, war ein Ding der Unmöglichkeit.
    Lässt man die Emotionen, die bei solch traurigen Ereignissen in der Natur der Sache liegen, außer Acht, so resultierte aus dem fatalen Fehler des Nicht-Nobelpreisträgers, dass Nicholas ein Erbe zufiel, welches aus einem Adelstitel, einer wunderbaren Wohnung in South Kensington (ein umgebauter ehemaliger Pferdestall), Geld auf der Bank bestand sowie darin, dass er auf einen weisen Ratgeber verzichten musste. Ein Treffen mit Russland wurde fast unabwendbar.
    Und ein Jahr nach dem ersten Schritt folgte dann auch der zweite, entscheidende. Aber bevor vom Brieffragment des Hauptmanns von Dorn und dem rätselhaften Päckchen aus Moskau die Rede sein soll, muss noch ein Umstand erklärt werden, der eine wichtige, ja vielleicht die ausschlaggebende Rolle für das Verhalten und die Handlungsweise des jungen Magisters spielte.
    Dieser Umstand lässt sich mit dem wenig schmeichelhaften Wort Nedowintschennost bezeichnen, das Nicholas bei einem seiner flüchtigen neurussischen Bekannten aufgeschnappt hatte (Nedowintschennost: Zustand wie bei einer nicht bis zum Anschlag festgedrehten Schraube; gebraucht im Sinne von: unfertig, unreif, unentschieden, wankelmütig, nicht vollwertig sein; er ist irgendwie nedowintschenny, das sagt man von einem Menschen, der keine Persönlichkeit ist, der seinen Platz im Leben nicht gefunden hat.) Das Wort war hart, aber treffend. Nicholas hatte sofort verstanden, dass es sich auf ihn bezog, ja, er ist nedowintschenny. Wackelt hin und her in einem Loch, genannt das Leben, dreht sich lediglich um die eigene Achse, greift aber nicht und hält auch nichts fest – wie eine Schraube, die keine ist.
    Das russische Präfix »ne-do« – »nicht ganz« war überhaupt ein Schlüssel zu Fandorins Wesen. Nie war er etwas ganz, immer fehlte etwas. Nehmen wir zum Beispiel seine Größe. Sechs Feet und sechs Inches, das konnte man nicht gerade eine Untergröße nennen. Nicholas sah auf die meisten Erdenbürger von oben herab. Aber wenn man seine Größe in Meter umrechnete, kam etwas heraus, das symbolisch war: ein Meter neunundneunzig. Wieder fehlte etwas, sonst wären es volle zwei Meter gewesen.
    Genauso war es mit seinem Beruf. Vom Alter her hatte er zwar durchaus noch Zeit – er war ja noch längst keine vierzig. Aber seine Altersgenossen hatten bereits ein, zwei Monografien veröffentlicht, viele hatten schon den Doktortitel, und einer war sogar damit geehrt worden, dass man ihn als Mitglied in die Royal Historical Society aufgenommen hatte. Professor Crisby, sein früherer wissenschaftlicher Mentor, hatte einmal gesagt: Nicholas Fandorin ist vielleicht ein Historiker, aber einer von kleinem Kaliber. Für großartige Jagdtrophäen, d. h. umwerfende neue Theorien und Konzepte, reicht es bei ihm nicht – er wird allenfalls auf kleine faktografische Spatzen schießen. Und all das, weil er keine Ausdauer, keine Geduld und keine Gründlichkeit hat. Oder wie sich der verehrte Professor ausdrückte: weil er zu wenig Fleisch am Hintern hat.
    War das nicht ärgerlich? Was soll man denn machen, wenn man eine Stauballergie hat? Wenn einem nach zehn Minuten Sitzen im Archiv die Augen tränen, die Nase läuft, der rosige Schimmer auf den Wangen von roten Flecken verdrängt wird und die Stimme einfach wegbleibt? Ja, Nicholas war nie in den so genannten Ländern der Dritten Welt gewesen, weil es da überall staubig und schmutzig ist! Allein deswegen hatte er im zweiten Studienjahr nicht nach Marokko zu den Ausgrabungen mitfahren können!
    Doch warum sollte er sich etwas vormachen? Die Geschichte zog Nicholas nicht als eine wissenschaftliche Disziplin an, die darauf ausgerichtet ist, die Erfahrung der Menschheit zu verstehen und aus dieser Erfahrung praktische Lehren zu ziehen, sondern als spannende, faszinierende Jagd nach der unwiderruflich vergangenen Zeit. Die Zeit ließ einen nicht an sich heran, entwischte, aber manchmal geschah ein Wunder, dann bekam man für einen kurzen Augenblick diesen Feuervogel doch am Schwanz zu packen und behielt auf einmal eine zerbrechliche, leuchtende Feder in der Hand zurück.
    Für Nicholas lebte die Vergangenheit nur
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