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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren
Autoren: Boris Akunin
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den alten Rosenkranz aus Nephrit (von dem nie mehr in Erfahrung zu bringen sein wird, welchem Vorfahren er nun gehört hatte) oder die zwiebelförmige Uhr des Brigadiers Larion Fandorin mit der darin stecken gebliebenen türkischen Kugel gerettet hatte, dafür gebührte Großmutter ewiger Dank.
    Nicholas wunderte sich selbst darüber, dass er nicht schon früher auf diese einfache Lösung gekommen war. Warum in den Biografien fremder Leute stochern, von denen man ohnedies mehr oder weniger alles weiß, wo es doch die Geschichte der eigenen Familie gibt? Da riskiert man auch nicht, dass einem jemand in die Quere kommt.
    Als Erstes beschäftigte sich der Magister natürlich mit dem Autograf der Zarin, das nur von Danil Fandorin stammen konnte, denn dieser hatte die nicht besonders angesehene, aber einflussreiche Stelle eines Kammersekretärs in Petersburg, dem Venedig des Nordens, innegehabt. Nicholas veröffentlichte in einer renommierten Fachzeitschrift einen Aufsatz über seinen Vorfahren, in dem er unter anderem einige vorsichtige Vermutungen über die Gründe der höchst erlauchten Dankbarkeit und die Datierung dieses Dokuments (vielleicht Juni 1762) anstellte. Die Spezialisten für osteuropäische Geschichte nahmen diese Veröffentlichung wohlwollend auf, und beflügelt von diesem Erfolg, befasste er sich mit dem Staatsrat Erast Petrowitsch Fandorin, der in den achtziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts beim Moskauer Generalgouverneur als Beamter mit besonderen Befugnissen tätig gewesen war und sich danach dann als Privatmann mit der Aufdeckung aller möglichen geheimen Machenschaften beschäftigt hatte, von denen es an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert ja mehr als genug gegeben hatte.
    Leider konnte Nicholas aufgrund des äußerst heiklen Gegenstands, mit dem der Ehrenmann als Detektiv befasst gewesen war, nur sehr wenige seiner Tätigkeiten belegen. Statt einer wissenschaftlichen Abhandlung musste er deshalb in einer Illustrierten eine Reihe von auf Familienüberlieferungen basierenden fiktiven Erzählungen veröffentlichen. Für seine wissenschaftliche Karriere war dieser Abstecher eher ein Minuspunkt, und als Buße nahm sich Nicholas der skrupulösen Erforschung der alten, noch vorrussischen Periode der Geschichte der von Dorns an: Er studierte die Überreste und die Umgebung des Stammsitzes Theofels, traf sich mit den Sprösslingen von Nebenzweigen der Sippe (es muss gesagt werden, dass es die Nachfahren des Kreuzfahrers Theo von Lappland bis weit nach Patagonien verstreut hat), hustete und nieste sich eins in Provinzarchiven ab, in Museumsdepots und in Bistumsämtern.
    Das Ergebnis all dieser Bemühungen war nicht besonders beeindruckend: sechs dürftige Veröffentlichungen und zwei oder drei drittrangige Entdeckungen, die für eine anständige Monografie nicht ausreichten.
    ***
    Auch auf den Artikel über die eine Hälfte des Testaments des Cornelius von Dorn (auch dies ein Stück aus der Ebenholzschatulle), der vor vier Monaten im »Royal Historical Journal« erschienen war, konnte er nicht besonders stolz sein. Um das Gekrakel des tüchtigen Württemberger Hauptmanns zu entziffern, der es sich wohl kaum hätte träumen lassen, dass seinen Lenden ein mächtiger Zweig russischer Fandorins entspringen sollte, musste er einen speziellen paläografischen Kurs besuchen, doch auch nachdem das Dokument entziffert war, blieb der Inhalt so unklar wie vorher.
    Wenn das dicke graue Blatt nicht längs, sondern quer zerschnitten worden wäre, wäre der Text wenigstens zusammenhängend, und man hätte ein Teilstück lesen können. Aber die in der Schatulle aufbewahrte Schriftrolle war zu schmal – irgendein Bauerntölpel hatte die Urkunde von oben nach unten durchgeschnitten, und die zwei Hälfte war verloren gegangen.
    Nicholas war sich noch nicht einmal ganz sicher, dass es sich um ein Testament handelte und nicht um eine Notiz. Um seine Hypothese zu stützen, zitierte er in dem Artikel die Anfangszeilen, in denen wie in Testamenten üblich von der Versuchung des Teufels und von Jesus Christus die Rede war, danach aber folgten Angaben, die den Haushalt betrafen:
    Dieses vermächtnisz ist fuer
    selbiger verstand angenomm
    abberufen vnd mir den weg
    vnd im fall du mit
    es zu finden so ist dies
    Versuchung des satans dich
    findest nimm vm Christi
    im Altyn-Tolobas den
    nimm nicht so dir deyn seel
    Die renommierte Zeitschrift akzeptierte grundsätzlich keine Abbildungen, so dass keine Fotografie
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