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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren
Autoren: Boris Akunin
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vielleicht die Zeit hinter dem schwarzen Mantel zu packen und zwingst sie dazu wiederzukehren!
    Der Ort Infernograd, die Initialen C.v.D., die Matfejews, das Teilstück der Schriftrolle, das 17. Jahrhundert – alles passte zusammen. Die fehlende Hälfte des Testaments war gefunden, so viel war sicher! Auch die Herkunft des Päckchens war mehr oder weniger klar. Offenbar war auf russischer Seite jemand (vermutlich ein Historiker oder der Mitarbeiter eines Archivs) auf Fandorins Artikel im »Royal Historical Journal« gestoßen, hatte sich an die Meldung in dem alten »Archivboten« erinnert und dem Engländer helfen wollen. Wie typisch russisch das alles war: ohne Angabe des Namens, ohne Begleitschreiben, ohne Absender! Aus westlicher Sicht ein barbarisches Verhalten. Aber Nicholas hatte genügend Gelegenheit gehabt, die Angewohnheiten und die Psychologie der neuen Russen zu studieren. Die Anonymität der Sendung ließ weniger auf einen Mangel an Kultur schließen denn auf Schüchternheit. Offenbar stammte das Päckchen von einem armen (es ist ja bekannt, wie schlecht es den russischen Wissenschaftlern im Moment geht), aber stolzen Menschen. Und der hatte Angst, dass der reiche Ausländer, erfreut über den unschätzbaren Hinweis, ihn beleidigen und ihm zum Dank Geld anbieten könne. Oder der Absender fürchtete, zu viele Fehler im Englischen zu machen, obwohl er sich doch eigentlich denken konnte, dass der Verfasser eines Artikels über das Russland des 17. Jahrhunderts zur Not auch das heutige Russisch irgendwie verstehen würde.
    (Oh, diese berüchtigte neurussische Schüchternheit! Nicholas hatte einen Moskauer gekannt, der ein Praktikum an der Londoner Universität absolvierte. Der hatte dem Lehrstuhlleiter in besoffenem Zustand allerhand Dummheiten gesagt und sich am nächsten Morgen noch nicht einmal entschuldigt, obwohl er sich, seinem betretenen Aussehen nach zu urteilen, sehr wohl an alles erinnerte. »Du musst zu dem Professor gehen und dich einfach entschuldigen«, sagte Fandorin zu ihm. »Das passiert doch jedem mal, wenn er getrunken hat.« Der neue Russe antwortete: »Das bringe ich nicht fertig. Ich bin zu schüchtern, um mich entschuldigen zu können.« Und so quälte er sich bis ans Ende seines Praktikums.)
    Aber eigentlich war es auch egal! Wenn der unbekannte Wohltäter Nicholas’ Dankbarkeit nicht wollte – dann eben nicht. Die Hauptsache war, dass er jetzt mit ein wenig Glück und Ausdauer ein richtiges Buch würde schreiben können. Wenn Cornelius Artamon Matfejew in die Verbannung begleitet hatte (und das konnte jetzt praktisch als erwiesen gelten), dann enthielt der vollständige Text des Testaments womöglich wirklich unschätzbare Informationen.
    Das sah nach einer echten wissenschaftlichen Entdeckung aus. Und wenn es keine Entdeckung würde, dann hätte er aber jetzt genügend Material für eine Monografie. Zum Beispiel mit dem Titel:
    CORNELIUS VON DORN
    KORNEJ FONDORN
    Biografie eines fremdländischen Kriegsmannes der
    vorpetrinischen Epoche, verfasst von seinem Nachkommen
    Na also? Das wäre doch was: In diesem ZaD, d. h. dem Zentralarchiv für alte Dokumente, hocken, in den Akten über die Anwerbung ausländischer Offiziere, den Verzeichnissen über die Gehaltszahlungen und den Protokollen über die Verhöre der Geheimen Kanzlei im Fall Artamon Matfejew blättern – da wird sicher genug Material Zusammenkommen. Dieses dann in den Gesamtzusammenhang der Epoche einbetten, vergleichbare Biografien anderer Söldner hinzuziehen – und das Buch ist fertig. Und gleichzeitig lernt Nicholas dann endlich statt dieser verklärten seine wahre Heimat kennen. Das wurde aber Zeit.
    Sir Alexander lag auf dem Meeresgrund und konnte seinem Stammhalter nicht von diesem riskanten Vorhaben abraten, und so setzte Nicholas die getroffene Entscheidung in Schwindel erregendem Tempo in die Tat um. Setzte sich per Fax mit dem Moskauer Archiv in Verbindung, vergewisserte sich, dass das gewünschte Dokument tatsächlich vorhanden war und eingesehen werden konnte. Der Rest war dann ein Kinderspiel: Fahrkarte, Hotelbuchung, das Abfassen eines Testaments (einfach so, für alle Fälle). Da er weder nahe noch entfernte Verwandte hatte, vermachte Nicholas sein ganzes mobiles und immobiles Vermögen dem Worldwide Fund for Nature. Und es konnte losgehen, über das Meer und dann per Zug, die gleiche Route, wie sie der ferne Vorfahr damals vermutlich genommen hatte.
    In seinem Aktenkoffer, der sich jetzt unter dem Sitz
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