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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren
Autoren: Boris Akunin
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der Liege befand, hatte er alles, was er brauchte: ein solides Empfehlungsschreiben der »Royal Historical Society«, ein Notebook mit Handy, Miniscanner und einem neuen, gerade frisch entwickelten Programm zur Entzifferung alter Handschriften, die besagte Hälfte des Testaments mit einem Begleitzertifikat, eine Reisekrankenversicherung und das Ticket für die Rückfahrt mit noch offenem Datum (nicht mit dem Zug, sondern mit dem Flugzeug).
    Vor der Begegnung mit seinem Vaterland besuchte er einen Kurs, um durch Autosuggestion seine in der Familiengeschichte begründeten Aversionen abzubauen.
    Angenommen, Russland ist ein nicht besonders sympathisches Land, sagte sich der Magister. Politisch suspekt, kulturell zurückgeblieben und ohne feste moralische Grundsätze. Aber all das sind relative Begriffe. Wer hat denn gesagt, dass man Russland mit dem glücklichen England vergleichen sollte, das schon seit ein oder zwei Jahrhunderten ein angenehmes Leben kennt? Warum nicht mit Nordkorea oder dem Tschad?
    Außerdem passte Fandorin auch an den Engländern manches nicht. Eine Nation von Gürteltieren, jeder für sich, jeder unter seinem eigenen Panzer – da kommst du nie ran, egal wie lange du klopfst. Und man wird sich erst gar nicht trauen zu klopfen, denn das gilt als Verletzung der Privatsphäre. Und der berühmte britische Humor. Meine Güte, kein einziges einfaches Wort, immer diese Grimassen, immer diese Selbstironie. Kann man denn mit einem Engländer überhaupt über ein »russisches« Thema sprechen, über Gut und Böse, die Unsterblichkeit oder den Sinn der Existenz? Ausgeschlossen. Das heißt, man kann schon, aber man lässt es besser.
    Und dann hoffte er insgeheim noch auf etwas, was nicht rational, sondern intuitiv war – auf russisches Blut, die slawische Seele und die Stimme der Ahnen. Vielleicht würde, wenn an den Fenstern des Zuges bescheidene Birken – und Espenwäldchen vorbeizogen und einem auf dem Bahnhof die Stimmen von Johannisbeeren und Sonnenblumenkerne verkaufenden Frauen (oder was verkaufen die wohl heutzutage auf den Bahnsteigen?) entgegenschallten, sein Herz auf einmal von einem tiefen, durchdringenden Moment des Wiedererkennens durchzuckt werden und Nicholas würde eben jenes frühere Russland sehen, das, wie sich herausstellen würde, nirgendwohin verschwunden, sondern nur gealtert – nein, nicht gealtert, sondern nur um ein Jahrhundert erwachsener geworden war. Er wünschte sich schrecklich, alles möge so und nicht anders kommen.
    ***
    Das war es also, woran der Magister der Geschichte N. Fandorin beim Rattern der Räder des Luxus-Zuges »Iwan der Schreckliche« dachte, als dieser die letzten Kilometer vor der lettisch-russischen Grenze hinter sich brachte. Schade, es war schon fast ganz dunkel, die Landschaft vor dem Fenster war zu einer blaugrauen Masse verschwommen, die nur von wenigen Lichtern belebt wurde, und Mister Kalinkins mit seinem alles andere als perfekten Englisch störte ungemein.
    Am Anfang, als er sich darüber beschwerte, wie schwer es die lettischen Milchprodukte hätten, sich auf dem europäischen Markt durchzusetzen, war es noch auszuhalten. Fandorin war versucht, dem Händler den guten Rat zu geben, er solle den europäischen Markt, auf dem eine lettische Firma sowieso keinerlei Chance habe, vergessen – schließlich wüssten die Europäer schon nicht, wohin mit ihren eigenen Kühen, er solle lieber freundschaftliche Beziehungen mit den Russen pflegen und froh sein, dass er einen so riesigen Absatzmarkt für saure Sahne ganz in seiner Nähe habe. Er wollte diesen Rat geben, aber er fing sich gerade noch rechtzeitig. Nicholas hatte die unangenehme, nicht wegzukriegende Angewohnheit, Leuten ungefragt Ratschläge zu erteilen, was in England als ungehörig, ja einfach unfassbar gilt. In den über dreißig Jahren seines Lebens auf den Britischen Inseln hatte Fandorin sich so oft auf die Zunge gebissen, wenn er mal wieder drauf und dran war, ganz ungehemmt jemandes Privatsphäre zu verletzen, dass es eigentlich ein Wunder war, dass dieses tückische Organ noch nicht abgebissen war.
    Außerdem hätte dieser Rat dem Letten wohl kaum geschmeckt, denn Mister Kalinkins ging nach den Klagen über die Hartherzigkeit der Europäer zur Entlarvung der Russen über, die nur noch von den knauserigen Esten an Widerwärtigkeit übertroffen wurden. Nicholas hatte selbst keine besonders schmeichelhafte Meinung von den neuen Russen, aber die eigenen Ansichten aus dem Mund eines
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