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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren
Autoren: Boris Akunin
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Ausländers zu hören, war abstoßend. (Wie war das noch, steht nicht etwas Ähnliches schon bei Puschkin?)
    »Wir haben kein Glück gehabt«, maulte der Sahneexporteur. »Die Fahrkarten für unseren Luxus-Zug ›Karlis Ulmanis‹ waren schon ausverkauft. Da ist alles anders: sauber, kultiviert, im Speisewagen bekommt man frische Milchprodukte. Das hier ist dagegen ein Gulag auf Rädern. Sie wissen doch, was ein Gulag ist? Die Schaffner reichen kalten Tee, im Speisewagen riecht es nach verfaultem Kohl, und nach der Grenze kommen Prostituierte durch den Wagen und bieten ihre Dienste an, Sie werden es ja sehen.«
    »Ich stelle mir den Gulag ein wenig anders vor«, konnte sich Fandorin nicht verkneifen zu spotten, aber der Weggefährte merkte die Ironie gar nicht.
    »Das geht ja noch!«, sagte er und senkte die Stimme. »Nach der Pass – und Zollkontrolle müssen wir die Tür zusperren und die Kette vorlegen, da machen sie die Gegend unsicher und kommen abzocken.« Mister Kalinkins sagte Letzteres auf Russisch (so dass dabei herauskam: there they . . . poschalivajut), schnipste suchend mit den Fingern und übersetzte dieses spezielle Verb poschalivajut dann mit »hold up«. »Richtige Banditen sind das. Sie stürmen die Abteile und nehmen den Leuten das Geld ab. Und die Bahnpolizei und die Schaffner stecken mit ihnen unter einer Decke, sie geben ihnen Tipps, wo die reicheren Fahrgäste sind. Im vorvorigen Monat ist einer meiner Bekannten . . .«
    Nicholas war dieses russenfeindliche Gerede leid, und so unternahm er etwas schreiend Unhöfliches: Er setzte sich den Kopfhörer auf und schaltete seinen Walkman ein. Die Kassette war bereits zum autosuggestiven Lied vorgespult, das dazu aufrief, Russland so zu lieben, wie es nun einmal ist. Fandorin hatte sich das vorher so zurechtgelegt: beim Überqueren der Grenze wollte er die heisere Stimme Juri Schewtschuks hören.
    Offenbar funktionierte es.
    »Heimat! In die Heimat fahre ich!«, schallte es aus dem Kopfhörer, »Iwan der Schreckliche« verlangsamte die Fahrt, um zu einer Bremsung für den ersten russischen Halt anzusetzen, und Nicholas schaukelte im Takt des mitreißenden Refrains. In seinem Herzen rührte sich wirklich etwas, es kitzelte in seiner Nase, und in die Augen – auch das noch! – traten ihm Tränen.
    Heimat! In die Heimat fahre ich!
    Sollen sie doch schreien, die ist fürchterlich!
    Wenn sie uns aber trotzdem gefällt,
    Diese nicht allerschönste, aber unsere Welt!
    Nicholas hatte es bei der schmetternden Stimme des Sängers nicht ausgehalten, war eingefallen und besann sich nun auf einmal. Er wusste, dass es ihm kategorisch untersagt war, laut zu singen: Wie ein Tschechow scher Held hatte er eine kräftige, aber scheußliche Stimme und traf außerdem nie die richtigen Töne.
    Fandorin wandte sich vom Fenster ab und schielte schuldbewusst zu dem Letten. Der schaute den Engländer mit solchem Entsetzen an, als erblicke er das Haupt der Gorgo. Sicher, Nicholas war schon ein mieser Sänger, aber das konnte doch nicht der alleinige Grund sein. »Ach so«, ging dem Magister auf, »Kalinkins weiß ja nicht, dass ich Russisch kann.«
    Aber er hatte keine Zeit, sich zu erklären, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür mit einem scheppernden Geräusch, und zwei Uniformierte in grünen Mützen stürmten das Abteil: ein Offizier und ein einfacher Soldat.
    Der Offizier war unglaublich rot im Gesicht und nicht ganz nüchtern, wie dem Magister schien. Jedenfalls roch er nach starkem, billigem Alkohol und hatte einen hartnäckigen Schluckauf.
    Das ist der Grenzschutz, dachte Fandorin.
    Der Höherrangige stellte sich vor den Briten, streckte ihm die flache Hand entgegen und sagte: »Hick.«
    Nicholas geriet in Verwirrung, als er verstand, dass er keine Ahnung hatte, wie das Alltagsritual der Passkontrolle in Russland aussah. Leitete man das etwa mit einem Händedruck ein? Das wäre ungewöhnlich und nicht gerade hygienisch, wenn man berücksichtigte, wie vielen Fahrgästen der Offizier dann die Hand schütteln musste; andererseits wäre das so richtig russisch.
    Fandorin sprang schnell auf, lächelte breit und schüttelte dem Offizier fest die Hand. Der starrte den verrückten Ausländer verwundert vom Fuß bis zum Scheitel an und brummte, an seinen Untergebenen gewandt, halblaut:
    »Das ist ja ein komischer Kerl. Guck dir das an, Sapryka, dann weißt du, was dich sonst noch alles so erwartet.«
    Und er zog seine Finger zurück, rieb sich die Hand an der Hose
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