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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren
Autoren: Boris Akunin
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ihn in ein Museum als Erinnerungsstück an Cornelius von Dorn. Und schreibe einen Artikel. Immerhin ist mein Fund doch eine indirekte Bestätigung der Version, dass die Bibliothek Iwans des Schrecklichen kein Hirngespinst ist. Wenn Samoleys Buch wirklich existiert hat, ist das Verzeichnis von Professor Dabelow keine Fiktion, sondern ein glaubwürdiges Dokument. Das ist zwar keine große Entdeckung, aber es ist eine. Leben Sie wohl, Herr Gabunija. Ich bin bei Ihnen hier in Moskau zu lange hängen geblieben. Ich muss nach Hause, nach England.«
    Er streckte dem Bankier seine Hand entgegen, aber Joseph Guramowitsch wollte sich nicht verabschieden, sondern packte den Magister am Ellbogen und sagte:
    »Hören Sie, Nikolai Alexandrowitsch, was wollen Sie in England? Was ist denn das für ein Ziel für einen Mann: eine nicht sonderlich große Entdeckung zu machen? Um Gottes willen, das ist doch nichts für Sie, Staub in den Archiven zu schlucken und wissenschaftliche Bücher zu schreiben. Giwi hat mir jeden Abend die Videokassetten gegeben, die er mit einer versteckten Kamera aufgenommen hat. Da sieht man, wie Sie durch die Straßen gehen, sich die Häuser angucken und sich Notizen machen. Da sah ich Sie und bin aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Wie dieser Engländer sich verändert hat! Strotzend vor Energie, Begeisterung, Glück! Da schmettert er das Lied von Suliko! Man sieht sofort, da macht einer etwas, was ihm gefällt. Wissen Sie, was Ihre wahre Aufgabe ist, wozu Sie Talent haben?«
    »Nein«, antwortete Fandorin, der aufmerksam zugehört hatte, »das weiß ich nicht. Richtiger, ich weiß es zwar, aber ich habe kein Talent. Wie übrigens die meisten Menschen.«
    »Wie das bei den meisten Menschen ist, kann ich nicht sagen, die kenne ich nicht. Aber bei Ihnen, Nikolai Alexandrowitsch, bin ich mir sicher. Sie haben mir drei solche Ratschläge gegeben, für die mir eine Million nicht zu schade wäre. Eine Million Dollar natürlich. Ich bin Ihnen in alle Ewigkeit dankbar, das schwöre ich! Ich soll essen und mich nicht ärgern, so war das doch, nicht?« Sosso hob seinen dicken kleinen Finger und aß unverzüglich eine Praline, um seine Aufrichtigkeit zu unterstreichen. »Wenn meine Frau mir Hörner aufsetzt, kann ich doch nur mit den Augen vor Glück zwinkern, oder? Zum ersten Mal im Leben geht mir das so!« Er hob den zweiten Finger, den Ringfinger, an dem ein massiver Goldring steckte. Und schon ließ auch der dritte Finger nicht auf sich warten: der Mittelfinger, an dem ein Brillant-Siegelring steckte, und Sosso fuhr fort: »Und auch mit Gott bin ich ins Reine gekommen, ehrlich! Ich habe nach dem Gespräch mit Ihnen aufgehört zu beten. Was soll ich denn heucheln, hab ich mir gesagt, wenn ich nicht glaube. Und heute Morgen, als wir von der Taganskaja-Uliza zurückkamen, hatte ich auf einmal ein unbändiges Verlangen, mich vor eine Ikone zu knien und zu beten. Nicht um etwas Bestimmtes zu erreichen, einfach so! Nicht um zu bitten: etwa um den Zuschlag für die Mehrheitsanteile oder sonst irgendeinen Krimskrams oder die Rückerstattung der zwei Millionen, um die mich die Steuerpolizei gestern erleichtert hat. Einfach, um zu beten, und sonst nichts. Ich habe gebetet, und ich fühlte mich danach wohl. Verstehen Sie, was das heißt?«
    Gabunija sammelte die drei gehobenen Finger wieder ein und hob Stattdessen diesmal nur einen, den Zeigefinger, und wies damit viel sagend zur Decke.
    »Ja, das verstehe ich«, sagte Fandorin nickend und versuchte krampfhaft, sich an die letzte Zeile des Liedes über den Räuberhauptmann Kudejar und die zwölf Räuber zu erinnern. Hieß es da nicht: »Lasset uns beten zu Gott unserm Herrn?«
    »Ach, Sie verstehen absolut nichts. Sie verstehen nicht, welches Talent Sie haben! Nikolai Alexandrowitsch, Sie haben eine Berufung: den Leuten Ratschläge geben. Das ist eine höchst seltene, höchst kostbare Begabung! Sie interessieren sich für Menschen, Sie können sich in null Komma nichts in jemand hineinversetzen, Ihr Näschen ist besser als das meines Chouchou. Es gibt nichts Wertvolleres als einen guten Rat zur rechten Zeit. Sie brauchen nicht nach England! Dem Dummen winkt überall das Glück, doch ein kluger Mensch sollte begreifen, wo sein Platz auf der Welt ist. Ein kluger Mensch sollte verstehen, dass es die Begriffe ›objektiv besser‹ und ›subjektiv besser‹ gibt. Objektiv lebt es sich in England besser als in Russland, das bezweifelt keiner. Aber für Sie, Nikolai
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