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Die Begnadigung

Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Vorgeschichte. »Komm essen, Jens.« Sie hob das Krankenblatt hoch. »Die kleine Frau eben?«
    »Ja.« Wie schön sie ist, dachte Hansen. Sie ist für mich die Schönste … wie für den Werkmeister Wottke seine kleine, rundliche Erna. Unser ganzes Glück liegt in unserer Gemeinsamkeit, in unserem zusammen aufgebauten Leben. Wir haben uns eine eigene Welt geschaffen, ein kleines, winziges, abgegrenztes privates Paradies. Darin sind wir glücklich … wenn wir uns sehen, uns hören, wenn wir uns fühlen … Es ist ein göttliches Leben.
    Und dann fühlt man plötzlich einen kleinen, harten Knoten in der Brust. Und das Leben ist nur noch Monate wert … vielleicht auch zwei oder fünf Jahre … Und nur für wenige länger …
    Karin hatte das Krankenblatt durchgelesen. Langsam legte sie das Blatt zurück auf den Tisch.
    »Hast du Hoffnung, Jens?«
    »Wenig.«
    »Wenn sie sofort operiert und bestrahlt wird?«
    »Und die Metastasen?«
    »Es gibt doch Hormonpräparate. Es gibt die Fermenttherapie.« Karin sah auf das einsame Blatt Papier auf der leeren Schreibtischplatte. »Sechs Kinder, Jens … man kann da doch nicht einfach sagen: Unheilbar! Wir Ärzte legen die Hände in den Schoß! Wenn wir sagen: Unheilbar – dann ist das ein Todesurteil! Sind wir denn so ohnmächtig?«
    Dr. Hansen hob die Schultern. Es war etwas so Hilfloses in seiner Bewegung, daß es Karin fror.
    »Wir kennen heute beim Krebs nur zwei Therapien, die von der Schulmedizin als wirksam betrachtet werden: Stahl und Strahl. Operationen und Röntgen-, Radium- oder Kobaltbestrahlung. Aber von hundert Krebsfällen, die zu uns oder in die Kliniken kommen, sind die meisten …« Er sprach es nicht aus. Aber Karin verstand.
    »Und was geschieht mit ihnen?«
    »Man läßt sie zu Hause sterben! Für fast alle Kliniker ist der Krebs ein chirurgischer Fall. Von einer internen Behandlung halten sie nichts! Von einer Therapie, die außerhalb aller schulmedizinischen oder – wie man sagt – ›wissenschaftlichen‹ Dogmen liegt, hält man überhaupt nichts!«
    Dr. Hansen zog seinen Arztkittel aus. Es war, als lege er damit auch eine Beschränkung seines Temperaments ab, eine Scheu, das zu sagen, was er seit Jahren am Krankenbett in der Praxis, in den Kliniken gesehen und oft nicht begriffen hatte: die Resignation der Ärzte, wenn die Diagnose auf unheilbar lautete.
    Und weiterhin werden Krebskranke als inoperabel weggeschickt, scheuen sich die Kliniken, solche Hoffnungslose aufzunehmen.
    In unserer zivilisierten Welt stirbt jeder fünfte Mensch an Krebs! Und das trotz hochentwickelter Operationsmethoden, trotz Kobaltbomben, trotz Röntgentiefenbestrahlung, trotz einer ungeheuer fortschrittlichen Arzneimittelforschung!
    Karin Hansen deckte die Schutzhülle aus Wachstuch über die Schreibmaschine, rückte den Stuhl an den Schreibtisch, schloß den Rezeptblock in die Schublade. Sie mußte irgend etwas tun, um nicht herumzustehen und Jens Hansen in seiner Hilflosigkeit zu sehen.
    »Wirst du es ihrem Mann sagen?« fragte sie leise.
    »Vielleicht. Ich muß erst sehen, ob er die Wahrheit ertragen kann.«
    »Und dann?«
    »Dann bringen wir Frau Wottke in die Klinik. Ich habe eben mit Färber gesprochen. Sie ist bisher falsch behandelt worden …«
    »Mein Gott!« Karin stützte sich mit zurückgestreckten Armen auf den Schreibtisch. »Könnte dir so etwas auch passieren?«
    Einen Augenblick sah Dr. Hansen auf seine Hände. Dann hob er den Kopf, und es brach aus ihm heraus wie ein Schrei:
    »Ja!«
    Werkmeister Franz Wottke war mittelgroß und stämmig, ein Mann mit einem rötlichen Gesicht, treuen blauen Augen und Händen, die einen vierzigjährigen Fichtenstamm gut umfassen konnten.
    Er hatte seinen guten Anzug angezogen und saß auf dem Stuhl, auf dem gestern seine Erna gesessen hatte, die Hände zwischen die zusammengepreßten Knie gelegt, und sah treuherzig zu Dr. Hansen auf. In seinem Blick lag stille Bewunderung und das Vertrauen, das man einem Arzt entgegenbringt, wenn man glaubt, er könne allein helfen.
    »Meine Frau hat mir von Ihnen erzählt, Herr Doktor«, sagte Wottke. »Direkt geschwärmt hat sie von Ihnen! Sie war ja so glücklich, daß sie nichts an der Brust hat. Wissen Sie, Herr Doktor, auch ich habe Angst gehabt. Erna hat nichts davon gemerkt. Ihre Mutter ist an Darmkrebs gestorben, und die Großmutter an Brustkrebs. Es heißt zwar, die Sache ist nicht vererblich … aber unheimlich ist sie doch …«
    Dr. Hansen nickte. Er drehte den Kugelschreiber
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