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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition)
Autoren: T.C. Boyle
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ANKUNFT
    Sie hustete, immer hustete sie, und manchmal hustete sie Blut. Das Blut kam als feiner Sprühregen, aus den Lungenbläschen gepresst und mit Luft vermischt, als wäre es Parfüm aus einem Zerstäuber. Oder es stieg in ihrer Kehle auf wie ein heißer, metallisch schmeckender Sirup, der von der Glut in ihr brannte, bis sie ihn in den Porzellannapf spuckte und als hellroten Klumpen dort liegen sah wie etwas, das sie geboren hatte, wie eine Nachgeburt. Aber was wusste sie schon davon – schließlich hatte sie nie ein Kind empfangen, weder von James, ihrem ersten Mann, noch von Will. Sie war achtunddreißig und hatte sich damit abgefunden, dass sie nie ein Kind haben würde, nicht in diesem Leben. Wenn sie sich schwach fühlte, wenn sie Blut spuckte und der Schmerz wie eine mittelalterliche Folter war, wie la peine forte et dure , bei der ein Folterknecht einem so lange Steine auf die Brust legte, bis die Rippen brachen und das Herz stehenblieb, hatte sie zuweilen das Gefühl, als würde sie nicht einmal das Ende des Jahres erleben.
    Aber das waren trübe Gedanken, und die wollte sie nicht, nicht heute. Heute war sie voller Hoffnung. Heute war Neujahr, der erste Tag ihres neuen Lebens, und sie war unterwegs in ein Abenteuer: Sie stach von Santa Barbara auf einem Schoner in See, mit ihrem zweiten Mann, mit Edith, ihrer adoptierten Tochter, und der Hälfte ihres irdischen Besitzes, und ihr Ziel waren die Insel San Miguel und die jungfräulich reine Luft, die sie, wie Will versicherte, wieder gesund machen würde. Und sie glaubte ihm. Sie glaubte ihm wirklich. Sie glaubte alles, was er sagte, auch wenn Carrie Abbott bei dieser Nachricht das Gesicht verzogen hatte. Marantha, nein – du willst wohin? hatte Carrie gesagt, ohne eine Sekunde nachzudenken, und die Teetasse auf dem niedrigen Mahagonitisch abgestellt. Sie hatten in ihrem Salon gesessen, mit Blick auf die San Francisco Bay und die weißen Schaumkronen der Wellen, die in parallelen Linien über die ganze Breite des Fensters wanderten. Auf eine Insel? Und wo ist die noch mal? Dann hatte sie sich besonnen und die Augen niedergeschlagen. Die Luft dort draußen soll ja sehr gut sein , hatte sie gesagt, sehr heilsam , und das kleine Kohlenfeuer war wieder aufgeflackert. Und es ist bestimmt wärmer. Wärmer als hier jedenfalls.
    Sie waren vor Morgengrauen aufgestanden und hatten ihr Gepäck bei Laternenlicht auf der Veranda des gemieteten Hauses in Santa Barbara aufgestapelt. Der Tag zuvor war warm gewesen, und die Sonne hatte unbeirrt von einem azurblauen Himmel gestrahlt, doch jetzt war die Luft kühl und feucht, kein Stern stand am Himmel, und die Nacht lag wie ein schweres Tuch über dem Hausdach und dem Verandageländer und den beiden Oleandersträuchern im Vorgarten. Die Callalilien am Weg wurden vom Dunkel verschluckt. Kein Laut war zu hören. Edith sagte, sie könne ihren Atem sehen, und Marantha hielt sich wie ein Mädchen die Hand vor den Mund und sah, dass es stimmte. Aber dann sagte Will etwas zu ihr, in scharfem Ton – ständig dachte er daran, was sie brauchen und was sie bestimmt vergessen würden, er regte sich regelrecht auf –, und der Augenblick war vorüber. Als das Fuhrwerk vom Mietstall kam, konnte man den Hufschlag der Pferde drei Blocks weit hören.
    Und jetzt waren sie auf einem Schiff und fuhren über das Meer – eine erstaunliche Verwandlung, als wären sie in die Haut eines anderen Wesens geschlüpft wie die Zauberer aus den Märchen, die sie Edith früher vorgelesen hatte. Auf einem Schiff, das hüpfte und bockte und der Länge nach erbebte, als besäße es ein eigenes Leben. Sie versuchte, ganz still dazusitzen, den Blick gerade nach vorn gerichtet, die Hände im Schoß gefaltet, und dachte ausgerechnet an ihren Sessel im Salon der Wohnung in der Post Street, die sie hatten aufgeben müssen – sie sah ihn so deutlich, als säße sie gerade darin. Sie sah die Stickereien auf den Kissen, die Lampe auf dem Tisch, die Katze, die vor dem Kamin schlief. Regen vor den Fenstern. Edith am Klavier. Den matten Schimmer von poliertem Holz. Es kam ihr vor, als wäre das vor Jahren gewesen, dabei war es erst wie lange her – etwas über einen Monat? Der Sessel stand jetzt in Santa Barbara, das Klavier war verkauft, die Lampe in einer Kiste verpackt, und die Katze – Sampan, eine Siamkatze, die sie schon vor ihrer Hochzeit gehabt hatte – war zur Adoption freigegeben, weil Will glaubte, dass ihr der Ortswechsel nicht guttun würde. Und er
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