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Die Begnadigung

Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ganz genau sein. Wir werden den kleinen Knoten herausnehmen und untersuchen. Dann wissen wir, was es ist … und wir haben Ruhe.«
    Er sprach bewußt burschikos. Er klopfte der kleinen, blonden, rundlichen Frau auf die Schulter. In ihren Augen lag Vertrauen. Sie nickte und stand auf.
    »Ich freue mich, daß es nichts anderes ist, Herr Doktor.«
    »Ihre Fröhlichkeit und Ihren Glauben an die Gesundheit dürfen Sie nie verlieren. Das ist mehr wert als alle Pillen.« Er deckte ein Blatt Papier über das beschriebene Blatt mit der Diagnose und gab dann Frau Wottke die Hand. »Kommen Sie in drei Tagen wieder. Ich spreche mit der Klinik … und dann nehmen wir Ihnen das Knötchen weg. Dann haben wir Ruhe!«
    »Sie sind so nett, Herr Doktor.« Frau Wottke strahlte Dr. Hansen an. »Mein Mann hatte doch recht, als er sagte: ›Geh mal zu Hansen …‹«
    Erna Wottke war die letzte Patientin des Vormittags. Als sich die Tür hinter ihr schloß, sah Dr. Hansen auf die Uhr. Halb eins. Um zwei Uhr fuhr er wieder los … zwanzig, dreißig Hausbesuche, vom kleinen Schnupfen bis zum Prostatakarzinom. Drei Geburten standen aus … meistens kamen sie nachts oder gegen Morgen. In einer Kleinstadt mit ländlichen Außenbezirken gab es für einen Arzt keinen Feierabend, keine Witterung, keine Müdigkeit.
    Dr. Jens Hansen wusch sich die Hände, ließ das kalte Wasser über seinen Nacken und das Gesicht laufen, massierte die Schläfen. Die Kühle durchrann ihn und vertrieb die Abgespanntheit.
    Ich muß in der Klinik anrufen, dachte er, als er sich abfrottierte. Jeder Tag früher bedeutete für Frau Wottke Leben. In jeder Sekunde können über die Lymphbahnen oder auf dem Blutweg die Metastasen ausgestreut werden … auf die Thoraxwand, in die Leber, in die Wirbelsäule, in die Hüftknochen. Und jede im Körper wandernde Krebszelle ist ein tödlicher, erbarmungsloser Feind.
    Er wählte die Nummer der Klinik, verlangte von der Zentrale Oberarzt Dr. Färber und wartete, bis sich die dunkle, behäbige Stimme des Chirurgen meldete.
    »Färber.«
    »Hansen. Ich möchte Ihnen einen Fall hinüberschicken, Herr Kollege. Vierundvierzigjährige Frau, Mutter von sechs Kindern, seit einem Jahr Knoten, jetzt walnußgroßer, beweglicher Tumor im oberen Quadranten der linken Brust, leichte Einziehung der Warze. Lymphknoten deutlich tastbar. Keine Schmerzen, fieberfrei. Kein Tastbefund an der Leber.«
    »Hm.« Dr. Färber schien zu überlegen. »Weiß die Frau, was sie wahrscheinlich hat?«
    »Natürlich nicht.«
    »Der Mann?«
    »Ich werde mit ihm sprechen.«
    »Tun Sie das, Herr Kollege. Nach dem, was Sie mir sagen, sieht es nach einem Steinthal II aus.« Oberarzt Dr. Färber schien in seinem Terminkalender zu blättern. Man hörte im Telefon das Rascheln von Papier. »Warum kommt die Frau erst jetzt zu Ihnen, Herr Kollege?«
    »Sie wurde von einem anderen Kollegen über ein Jahr lang behandelt –«
    Es klang nicht wie ein Vorwurf, und doch fühlte jeder der Ärzte, daß ein Erschrecken und die bange Frage in ihm aufstieg: Hätte mir das auch passieren können?
    »Geht es Donnerstag?« fragte die dunkle Stimme Dr. Färbers.
    »Ich werde mit ihrem Mann sprechen. Ich rufe Sie wieder an …«
    Dr. Hansen legte den Hörer langsam zurück. Hinter ihm, in der Tür zum Labor und Behandlungszimmer, stand seine Frau. Sie hatte den weißen Kittel aufgeknöpft und trug einen Stoß Karteikarten ins Zimmer.
    »Das Essen ist fertig, Jens«, sagte sie und legte den Papierstoß auf den Schreibtisch. Sie beugte sich über den Nacken Dr. Hansens, küßte ihn auf den Haaransatz und legte die Arme um seine Brust. »Du siehst abgespannt aus. Leg dich gleich eine Stunde hin!«
    Hansen antwortete nicht. Er sah stumm zu, wie sie jetzt die Karteikarten in den Kasten stellte, wie sie den Schreibtisch aufräumte, die Diagnose Wottke hochnahm und durchlas.
    Karin, dachte er. Mein Gott, wenn ich eines Tages zu dir sagen müßte: Ich habe mich geirrt. Nun ist es wahrscheinlich zu spät. Wir haben ein oder zwei Jahre Zeit verloren, und diese Jahre der Unkenntnis sind dein Todesurteil. Mein Gott, laß so etwas nie zu. Ich wüßte nicht, was ich täte …
    Er sprang auf, nahm Karin in die Arme und küßte sie, als habe er sie monatelang nicht mehr gesehen. Lachend, ein wenig beklommen vor Verblüffung, machte sich Karin los.
    »Ich glaube, so müde bist du gar nicht …« Sie hielt noch immer die Diagnose Wottke in der Hand. Sie hatte die ersten Zeilen gelesen. Alter, Kinderzahl,
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