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Die Ballade vom Fetzer: Historischer Roman (German Edition)

Die Ballade vom Fetzer: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Ballade vom Fetzer: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Tilman Röhrig
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Nähe der Tür setzen. Der öffentliche Ankläger betrat die Zelle. Mathias sah kurz zu ihm herüber und schloss die Augen.
    Wortlos legte Anton Keil die Schlösser vor die Strohmatratze. »Sieh sie dir an!« Er warf ihm den gebogenen Nagel hin. »Fünf Schlösser, sie sind neu und haben einen schwierigen Mechanismus.«
    Mathias regte sich nicht. Ohne ein Wort setzte sich Anton Keil auf seinen Platz an der gegenüberliegenden Zellenwand.
    »Man hat mir erzählt, dass du jedes Schloss öffnen kannst. Diese hier haben alle eine geheime Sperre.«
    Unbeweglich saß Mathias auf seiner Matratze. Er hob die Lider einen Spalt. Anton Keil tat so, als hätte er die kleine Regung in seinem Gesicht nicht bemerkt. »Ich werde dir für jedes geöffnete Schloss einen Taler bezahlen, dann kannst du dir beim Wärter Wein oder Schnaps kaufen. Ich werde es erlauben.«
    Langsam öffnete Mathias die Augen und sah dem öffentlichen Ankläger ins Gesicht. Anton Keil zeigte auf den Nagel. »Du musst es damit versuchen.«
    Mathias nahm den gebogenen Nagel mit den gefesselten Händen auf Er steckte ihn in das Schloss einer Handfessel. Ganz dicht presste er sein Ohr an das Schloss, dann bewegte er langsam den Nagel. Nach fünf Minuten schnappte die Spange zurück. Mathias leckte das Handgelenk und bewegte dann vorsichtig die ganze Hand, als führe er eine Puppe. Der öffentliche Ankläger sah ihn an und bewunderte seine Geschicklichkeit. Mit einer fast spielerischen Drehung des Nagels öffnete der Gefangene die zweite Handspange. Ohne aufzublicken nahm Mathias das erste Schloss zur Hand. Der öffentliche Ankläger rauchte. Es dauerte fast eine halbe Stunde, dann hatte Mathias die geheime Feder entdeckt, er knurrte, als er den Bügel zurückbiegen konnte.
    Anton Keil sah ihm stumm zu. Nach zwei Stunden hatte Mathias alle Schlösser geöffnet. »Woher kannst du das?«
    »Die Taler«, Mathias streckte eine Hand aus. Anton Keil bezahlte fünf Taler, doch Mathias hielt ihm die geöffnete Hand weiter hin. »Ich bekomm noch zwei!«
    »Wieso?«
    »Na, für die Handfesseln.« Mathias grinste, der öffentliche Ankläger lachte und bezahlte noch für jedes Kettenschloss.
    »Gib mir den Nagel!« Mathias folgte mit dem rechten Zeigefinger der Krümmung des Nagels, er seufzte und warf ihn dem öffentlichen Ankläger zu.
    »Woher kannst du das?«
    »Ich hab beim Bruch in der Kirche von Arcen das erste Schloss mitgenommen. Ich habe seitdem über sechshundert Schlösser gesammelt. Ich krieg jedes auf«
    »In Arcen, in der Kirche, wann war das?«
    »Im Herbst fünfundneunzig.«
    »Warst du allein?«
    »Der Heckmann, der Weyers und noch andere waren mit.«
    An diesem Abend gestand Mathias noch zehn Überfälle.
    »Ich muss dich wieder anketten.« Anton Keil sah den Gefangenen an, als wolle er um Entschuldigung bitten.
    Mathias streckte ihm beide Hände hin. »Sie können mir ja den Nagel hierlassen.«
    »Du kommst nicht mehr frei, Fetzer.«
    Mathias zog die Brauen zusammen, dann schloss er schnell die Augen. Auf seiner Stirn stand eine steile Falte. »Ich glaub, es ist wirklich vorbei.«
    Diepenbach schrieb noch in der Nacht ein ausführliches Protokoll über die elf Raubzüge. Der öffentliche Ankläger ließ sich den fertigen Bericht vorlegen. Seit zwei Stunden hielt er eins der fünf Schlösser in der Hand und versuchte, den Mechanismus mit dem gebogenen Nagel zu lösen.
    Am nächsten Morgen brachte der Gefängniswärter eine Flasche Branntwein in die Zelle. »Die ist vom Ankläger.«
    »Sag ihm, er soll heut einen Bader mitbringen. Ich will was wissen.« Mathias griff zu der Flasche.

September – Dezember 1802
    Anton Keil konnte den französischen Chirurgen Durant überreden, den Gefangenen zu untersuchen. Der Doktor weigerte sich, den verdreckten Westflügel des ›Kölner Hofs‹ zu betreten. Von sechs Wachsoldaten wurde Mathias aus seiner Zelle geholt. Er konnte kaum die Füße bewegen. Die Muskeln seiner Beine waren durch die lange Bewegungslosigkeit schlaff geworden. Mehr als die vier Schritte bis zum Koteimer unter dem Fensterspalt und wieder zurück auf die Strohmatratze war er in den vergangenen drei Monaten nicht gegangen. Mehr hatten ihm seine Fußketten nicht erlaubt.
    Der Chirurg rümpfte die Nase, als er den stinkenden Gefangenen im Amtszimmer des öffentlichen Anklägers untersuchte.
    »Mein Rücken fühlt sich manchmal wie tot an.«
    Anton Keil übersetzte den Satz ins Französische. Mit einem Metallstab drückte Durant die Geschwüre an
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