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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten
Autoren: Per Olov Enquist
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Offiziere wurden in Personenwagen transportiert, die Mannschaften in Bussen. Die Stimmung war gut.
    Am Sonntag, dem 13. Mai, begann der Strom der Flüchtlinge nachzulassen. Am Abend erreichten vierzehn deutsche Soldaten, dem Kurland-Kessel entgangen, Gotland; sie strandeten am Storsudret, nachdem sie eine anstrengende Fahrt in einem schadhaften Rettungsboot hinter sich gebracht hatten. Sie waren sehr erschöpft. Nachdem man sich ihrer angenommen hatte, kamen sie rasch wieder zu Kräften. Man schickte sie nach Havdhem. Drei von ihnen waren Balten.
    Am Dienstag, dem 15. Mai, landete die allerletzte Gruppe in einem Schlauchboot bei Grynge in Gammelgarn. In diesem Boot befanden sich sieben Mann, alles Soldaten. Sie waren von Lettland herübergepaddelt. Nach ihrer Landung brachte man sie zunächst ins Krankenhaus von Lärbro zur Untersuchung.
    Einer der Männer war etwa fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte helles, zurückgekämmtes Haar, klare, tiefliegende Augen, sprach ein ausgezeichnetes Deutsch, behauptete aber, Lette zu sein. Er folgte der Prozedur der Registrierung mit großer Aufmerksamkeit, kam mit mehreren der schwedischen Ärzte ins Gespräch, war auf eine angenehme und diskrete Art höflich und lächelte oft.
    Er sagte, er heiße Elmars Eichfuss-Atvars.
    Ihm fehlte nichts; dank seiner ausgezeichneten Widerstandskraft erholte er sich schnell. Er gab an, Arzt zu sein. Nach einigen Tagen schickte man ihn in das Lager von Havdhem, wo er als letzter der sieben registriert wurde. Er war der letzte von allen, die übers Meer gekommen waren: am 15. Mai 1945, bei Grynge, Gammelgarn, auf Gotland.

2
    A us dem Kurland-Kessel erreichten ungefähr hundertsechzig estnische, lettische und litauische Soldaten Gotland. Viele von ihnen wurden in der völligen Verwirrung der ersten Zeit für Zivilisten erklärt, in Sammellager für Zivilisten geschickt und bald darauf freigelassen. Man kann sagen: wer sich ernsthaft Mühe gab, als Zivil-Flüchtling anerkannt zu werden, erreichte sein Ziel. Von den gut hundertfünfzig baltischen Soldaten, die nach Gotland gekommen waren, wurden nur einundvierzig als Soldaten interniert.
    Die übrigen hundertsechsundzwanzig kamen nach Südschweden, die meisten nach Ystad.
    Sie hatten der 15. Lettischen Division angehört. Dieser Verband setzte sich aus Freiwilligen und Zwangsrekrutierten zusammen; in einigen Dokumenten wird er als »SS-Verband« bezeichnet, in anderen nicht. Die Bezeichnung ist in diesem Fall ohnehin ohne jede Bedeutung: der Verband hatte auf jeden Fall nicht der regulären SS angehört. Die Division war schlecht ausgerüstet, ihre Soldaten kaum ausgebildet. Die Ansicht über die Auslieferung der Balten hängt zu einem kleinen Teil mit der Ansicht über diese lettischen SS-Legionäre zusammen.
    Die Geschichte der lettischen SS-Verbände ist lang und kompliziert. Während der Zeit der deutschen Besetzung hatte man in Lettland eine sogenannte »Selbstverwaltung« unter Leitung lettischer Kollaborateure eingeführt. Der lettische Faschismus während der dreißiger Jahre war, trotz der Zeit unter Ulmanis, nie besonders stark gewesen. Das Jahr unter russischer Oberhoheit hatte aber einen Umschwung der Volksmeinung herbeigeführt. Viele sahen nun in den Deutschen die Retter, und trotz des traditionellen Deutschenhasses der Letten (der sich vor allem gegen die Deutschbalten des Landes richtete) war es für die Deutschen keine Schwierigkeit, freiwillige Mitarbeiter zu finden. Im Frühjahr 1943, nach Stalingrad, wurden unter Mithilfe gewaltiger Propaganda-Kampagnen in Riga Rekrutierungsbüros für die »Lettische SS-Legion« eingerichtet. Die lettische Zeitung Tevija wurde zum wichtigsten Propagandainstrument; in ihr konnten lettische Kollaborateure für »diese Möglichkeit, diese Pflicht der baltischen Völker« eintreten, »den deutschen Soldaten beim Kampf für ein Neues Europa zu helfen«.
    Die Werbekampagne erwies sich jedoch als Misserfolg, und im Herbst sah sich die lettisch-deutsche Verwaltung genötigt, zu nachdrücklicheren Methoden zu greifen. Am 24. November 1943 wurde der erste Mobilmachungsbefehl erlassen. Ihm sollten noch mehrere folgen. Insgesamt sollten einundzwanzig Altersklassen erfasst werden; die Zahl der Letten in der deutschen Wehrmacht betrug insgesamt 146.610 Mann. Man nimmt an, dass etwa dreißig Prozent dieser Soldaten verwundet wurden, fielen oder als vermisst gemeldet wurden.
    Wie stand es mit der Freiwilligkeit? In dieser Frage lässt sich nichts
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