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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten
Autoren: Per Olov Enquist
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die Anker und dampften mit einem deutschen Konvoi nach Westen. Voraussichtlicher Kurs: Flensburg.
    Dieser Version zufolge verläuft alles ohne Komplikationen, die Deutschen machen keine Schwierigkeiten. Ihrer Ansicht nach handelt es sich nicht um eine Desertion, sondern um den legitimen Versuch, so viele Soldaten wie möglich aus einem Kessel herauszuholen.
    Vielleicht ist diese Version korrekt. Gestützt wird sie jedenfalls durch die Tatsache, dass Danzig am 27. März von den Russen eingenommen wurde, also am selben Tag, an dem die Letten abfuhren. Die Russen drangen während der Nacht in die Stadt ein, bis in den Morgen hinein tobten heftige Kämpfe. Am Tag nahmen die Kämpfe bereits den Charakter von Säuberungsaktionen an. Am Nachmittag hatten die Russen die Stadt unter Kontrolle.
    Die Balten müssen die allerletzten gewesen sein, denen es gelang, sich aus dem Danziger Kessel zu retten.
    Die zweite Version sieht folgendermaßen aus.
    Der lettischen Einheit gehörte ein Arzt namens Janis Slaidins an. Er war am 8. Januar zu dieser Einheit gestoßen, nachdem er zuvor in Kurland Dienst getan hatte. Er war Feldarzt, ein Mann mit einem länglichen, kraftvollen Gesicht. Nachdem der lettische Verband (jetzt nur noch eine versprengte Einheit von etwa hundertfünfundachtzig Mann) an der Flussmündung Quartier bezogen hatte, richtete er in einem halbzerschossenen Krankenwagen eine Ambulanz ein. Spät in der Nacht zum 26. März wurde an die Tür geklopft, und der Chef der Einheit trat ein. Dieser war, wie die anderen Soldaten, lettischer Staatsbürger, er hieß Ernests Kessels und bekleidete den Rang eines Hauptmanns. Den meisten Zeugnissen zufolge soll er »ein energischer Mann« gewesen sein. Diese Energie konnte er jetzt gut gebrauchen, da die Russen nahe waren und sie selbst von deutscher Seite keine Erlaubnis hatten, das Gebiet zu verlassen.
    – Alle wehrfähigen Männer müssen in dem Danziger Kessel bleiben, erzählte er in jener Nacht. Kein wehrfähiger Mann in deutscher Uniform darf den Kessel verlassen. Nur Kranke, Verwundete, Kinder und Frauen dürfen hinaus. Die anderen müssen hierbleiben. Wir sollen offenbar bis zuletzt kämpfen.
    Slaidins kann sich an diesen Abend sehr gut erinnern: im Norden das Meer, eine dunkle Ruhe, im Süden ständig aufflackernde Feuerlohen, im Westen dumpfe Detonationen, ununterbrochene Detonationen und das leise Gluckern des Wassers. Dies ist der einzige Situationsbericht, den er sich gestattet, es geschieht widerwillig und sehr reserviert. Er kann kaum den Anspruch geltend machen, ein poetischer Mann zu sein.
    In jener Nacht diskutierten sie noch lange auf der Treppe des Krankenwagens, in der Dunkelheit.
    – Es gibt eine Möglichkeit, sagte Kessels schließlich. Sie sieht so aus: Sie als Arzt schreiben die gesamte Einheit krank, dann brauchen wir nur noch ein Transportmittel. Wir sind ungefähr hundertvierzig Mann, es ließe sich also machen. Nur die Transportmittel sind ein Problem.
    Sie unterhielten sich eine Weile über die Risiken eines solchen Unternehmens. Vor kurzem waren sie durch eine Stadt gezogen. Dort hatten sie aufgehängte Deserteure gesehen, markante Blickpunkte im Stadtbild. Sie hatten dort mit weit aufgerissenen Mündern gehangen, mit weißen Gesichtern.
    – Es ist riskant, sagte Kessels, aber wir müssen das Risiko eingehen. Wir müssen uns zu der übrigen Armee durchschlagen, sonst sind wir in zwei Wochen Gefangene der Russen.
    Früh am nächsten Morgen sichteten sie in der Weichselmündung drei lettische Schiffe. Alle drei waren Flussdampfer, die schon bessere Tage gesehen hatten; zuletzt hatten sie deutsche Truppen aus dem Kurland-Kessel herausgebracht. Jetzt lagen sie vor Anker; die lettische Besatzung war noch an Bord. Ein Soldat wurde zu Verhandlungen auf eines der Schiffe geschickt. Hier bot sich eine Möglichkeit.
    An diesem Tag schrieb Janis Slaidins, seit kurzem Arzt in deutschen Diensten, für hundertvierzig lettische Gemeine und Offiziere ebenso viele Krankheitsatteste aus. Die Arme einiger Männer wurden mit Gazebinden umwickelt, andere Soldaten humpelten, andere erhielten Befehl, möglichst krank auszusehen. Die Schiffe machten an einer Pier fest, die Kontrolle erfolgte durch einen deutschen Hafenoffizier. Kessels legte ihm den Stoß Atteste auf den Tisch, worauf beide begannen, die Papiere durchzugehen. Nach wenigen Minuten wurden sie durch einen russischen Fliegerangriff gestört. Das setzte den Formalitäten ein rasches Ende, die Letten wurden in
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