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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten
Autoren: Per Olov Enquist
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Hauptmann Kessels nach Kopenhagen beordert, um neue Befehle entgegenzunehmen, zur gleichen Zeit fährt Leutnant Raiskums nach Deutschland, um sich über die Lage zu informieren. Es herrscht nun große Unsicherheit über die operativen Aufgaben der Zukunft; das Ende des Krieges rückt immer näher. Raiskums und Kessels kehren zurück mit der Direktive, dass die Truppen auf Bornholm bleiben und abwarten sollen. Am Abend des 4. Mai kursieren »ernsthafte Gerüchte, dass es bald Frieden gibt«. Am Morgen des 5. Mai wachen Deutsche und Letten auf und entdecken, dass die ganze Insel flaggengeschmückt ist. Deutschland hat kapituliert.
    Am Abend des 6. Mai schreibt Leutnant P. in sein Tagebuch: »Wir sitzen auf den Schiffen und warten auf die Engländer. Viele Gerüchte sind in Umlauf. Am Abend gehen wir in Feuerstellung.« Am 7. Mai wurde Rönne von den Russen bombardiert. In der Nacht zum 8. Mai liefen die Letten nach Norden aus; den meisten Angaben ist zu entnehmen, dass Bornholm zwischen 4 und 5 Uhr morgens verlassen wurde. Am Tage zuvor waren fünf lettische Soldaten bei russischen Bombenangriffen ums Leben gekommen.
    Am 8. Mai liefen die beiden Schiffe gegen 10 Uhr in den Hafen von Ystad ein.
    Die Erinnerungen aus Bornholm sind in den meisten Fällen vage und ohne Interesse. In Rönne hatte sich nichts Bemerkenswertes ereignet. Die Dänen mochten die deutschen Uniformen nicht, bewahrten aber trotz ihrer Verachtung Ruhe. Sie sagten nichts und verhielten sich auch ruhig. Die Balten wohnten in Hotels und Gasthöfen und spazierten am Tage meist herum. Sie bemerkten zwar oft, dass die Dänen sie merkwürdig ansahen, aber im übrigen war alles gut.
    Einer der Balten erinnert sich an einen Kinobesuch. Er kam etwas zu spät, der Film hatte schon angefangen, er sah in einer Reihe einen leeren Sitzplatz, ging hin und setzte sich. Um ihn herum saßen nur Dänen. Als der Film zu Ende war, entdeckte er, dass um ihn herum ein freier Raum entstanden war.
    Von dem Film ist ihm nichts im Gedächtnis haftengeblieben. Die Dänen hatten vielleicht Angst, sagt er. Vielleicht mochten sie auch meine Uniform nicht. Vielleicht wussten sie auch nicht, dass wir Letten waren. Im übrigen war es uns scheißegal, was die Dänen über uns dachten. Sie waren halbwegs anständig zu uns, in dem Maß, wie man das in jener Zeit erwarten konnte: im April 1945.
    An den freien Raum im Kino erinnert er sich jedenfalls gut.
    Bei einigen anderen Balten kommen Bruchstücke des Aufenthalts auf Bornholm zum Vorschein. Eine Gruppe von Dänen, die feindselig auftreten, möchte die Truppe arretieren, bis Engländer oder Russen auf der Insel eintreffen. Einer derjenigen, die dieses Intermezzo beschrieben haben, ist ein lettischer Offizier; er fasst sich kurz, aber sein Bericht ist unklar. In seinem Bericht werden die dänischen Widerständler wiederholt als »kommunistisch inspirierte dänische Freiheitskämpfer« oder als »dänische Kommunisten« bezeichnet. Im übrigen scheint der Aufenthalt auf Bornholm wenig aufregend gewesen zu sein. An die Balten hat man nur spärlich Erinnerungen behalten, nicht einmal Widerwillen gegen sie. In Svaneke erinnern sich viele Menschen daran, dass die Balten dort gelandet sind, aber kaum einer weiß noch, was er damals empfand, tat oder dachte. »Sie haben am Kai festgemacht. Die meisten waren Letten, sie trugen Uniform. Nein, sie haben hier nichts angerichtet. Nach einigen Tagen verschwanden sie wieder.« In Rönne wohnten die Balten im Hotel Phönix, das damals ein riesiges Erster-Klasse-Hotel war. Heute ist es verfallen, verschmutzt, hat mehrmals den Eigentümer gewechselt und heißt jetzt Hotel Bornholm: kein Mensch erinnert sich an die Balten, sie sind in der Vielzahl der damals auf Bornholm stationierten Deutschen, Holländer und der übrigen, zu Tausenden dort versammelten Flüchtlinge untergegangen. »Damals zogen so viele Flüchtlinge in deutschen Uniformen hier herum, die alle ratlos aussahen. Mehrere tausend. Deutsche, Holländer, Balten, nein, an die Letten erinnern wir uns nicht.«
    Während der letzten Tage auf der Insel durften sie nicht länger im Hotel wohnen. Einige suchten in den Wäldern Zuflucht, in der Nähe von Galløkken, einige wohnten an Bord der Schiffe, andere wiederum schliefen am Strand, in Badehäuschen oder in Hütten aus Laub und Zweigen. Die Stadt war voller deutscher Soldaten und voller Flüchtlinge von der Halbinsel Hela, aus Kurland und Norddeutschland. Am Abend des 5. Mai erfuhren sie, dass
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