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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten
Autoren: Per Olov Enquist
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die Flüchtlinge an Land zu bringen.
    Die Männer an Bord waren unrasiert, aber nicht völlig ermattet. Die meisten behaupteten, Deutsche zu sein. Drei gaben an, sie seien Letten. Für eine Registrierung war keine Zeit. Der Soldat, der »Halt!« gerufen hatte, stammte aus Sigtuna. Er kann sich im übrigen nicht mehr genau an den Abend erinnern. Schon am nächsten Tag wurde das Fischerboot an einen anderen Liegeplatz gebracht.
    Der lettische Oberstleutnant Karlis Gailitis kam mit einem Boot nach Slite. Der dortige Polizeikommissar bot ihm eine Registrierung als ziviler Flüchtling an. Gailitis bestand jedoch entschieden darauf, als Militär registriert und seinem Dienstgrad entsprechend behandelt zu werden. Daraufhin wurde er in das Internierungslager in Havdhem geschickt und als Offizier registriert.
    Während des ganzen 9. Mai wehte an der Ostküste Gotlands ein leichter Wind, Windstärke drei nach der Beaufort’schen Skala, die Sonne schien, es herrschte gute Sicht. Am Abend bezog sich der Himmel von Osten her, und der Wind nahm an Stärke zu. Spät am Abend notierte man eine steife Brise bei nördlichem Wind. Um 23.15 Uhr sah die Besatzung des Leuchtturms von Faludden draußen an den Klippen von Faludden ein Notsignal. Es war die Nacht zum 10. Mai. Seit fast zwei Tagen Waffenstillstand. Das Signal war schwach, aber nicht zu übersehen, ein kleiner Lichtpunkt im heftigen Wind und in der Dunkelheit. Man konnte sich leicht ausrechnen, dass etwas geschehen sein musste.
    Die Männer nahmen ein Boot und fuhren hinaus.
    Die See war rauh, es war mühsam, das offene Meer zu erreichen, aber die Männer hatten sich nicht geirrt. Im Schein der Sturmlampen sahen sie, dass zwei Boote auf die Klippen aufgelaufen waren. Das eine schien ein Schlepper zu sein – unglaublich mitgenommen, von der Bemalung des Rumpfes nichts mehr zu sehen. Das Boot war offensichtlich schwer beschädigt. Aber vorn am Bug konnte man einen Namen lesen: »Gulbis«. Das zweite Boot, ein motorgetriebener Prahm und noch schwerer beschädigt, lag sehr tief im Wasser; es war nicht auf Grund gelaufen und trieb vor den Klippen längsseits. Es stampfte in der schweren See, an Deck konnte man Schatten sehen, die sich krampfhaft aneinander und an der halbzerbrochenen Reling festhielten.
    Das Notsignal brannte am Bug des Schleppers, auf dem es plötzlich von Menschen zu wimmeln schien. Er war nicht groß, aber es mussten sich über hundert Mann an Bord befinden. Alle trugen Uniform. Sie sprachen Deutsch, sie wollten an Land, sie sagten, sie hätten viele Verwundete bei sich.
    Sie zeigten auf den Prahm: einige der Schatten lagen an Deck, verwundet, sterbend oder tot. Niemand schien von ihnen Notiz zu nehmen. Die anderen klammerten sich an die Reling und sahen, vor Kälte zitternd, dem Lotsenboot zu, dessen Besatzung versuchte, längsseits beizudrehen. Temperatur plus drei Grad. Steifer Wind aus Nordost.
    Eine Trosse wurde zum Prahm hinübergeworfen. Der erste, der an Bord des Lotsenbootes sprang, war ein deutscher Offizier, der sich sofort im Heck niederließ und sich weigerte, diesen Platz wieder zu verlassen. Er schien zu frieren.
    Das Lotsenboot war um 23.20 Uhr ausgelaufen. Um 0.20 Uhr ging der erste Soldat an Bord. Um 1.30 Uhr lief das Lotsenboot mit dem ersten Törn wieder in den Hafen ein. Der Prahm schlug im Verlauf der Morgenstunden immer heftiger gegen die Klippen. Es war allen klar, dass man sich zuerst auf dieses Boot konzentrieren musste, damit es nicht mit seiner Besatzung unterging. Die Männer auf dem Schlepper mussten warten. Gegen Morgen drehte der Wind plötzlich auf Süd, die See wurde ziemlich kabbelig, und um 4 Uhr morgens schlug der Prahm endgültig voll und sank. Ein großer Teil der Ausrüstung ging mit dem Prahm unter, aber kein Mensch kam ums Leben. Um 5 Uhr waren alle an Land, der Morgen dämmerte bereits herauf, der Wind war immer noch sehr stark. Der Himmel war bewölkt, das fahle Licht der Dämmerung kalt. Alle froren, über der ganzen Küste lag ein grauer, kalter Dunst.
    Man hatte um Hilfe gerufen, und Hilfe war gekommen. Einige Männer wurden in Häuser einquartiert, einige bekamen Zelte, sie wurden verpflegt und konnten schlafen. Der Schlepper draußen an den Klippen erschien jetzt sehr klein, er verschwand fast hinter den Schaumkronen, er war klein, schwarz und unbedeutend. Er sollte noch einige Wochen dort draußen auf den Klippen liegenbleiben, da niemand Zeit hatte, sich um ihn zu kümmern.
    Die Flüchtlinge hatten den
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