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Die Augen Rasputins

Die Augen Rasputins

Titel: Die Augen Rasputins
Autoren: Petra Hammesfahr
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Chaos. Benutztes Geschirr auf dem Tisch. Auf einem der Schränke die Konservendosen mit hochgebogenen Deckeln, Hühnersuppe, Wiener Würstchen. Der Topf stand immer noch auf dem Herd. Und daneben lag ein Messer auf der Ablagefläche! Sie hatte es am Abend zuvor schon gesehen. Vermutlich hatte er damit die Würstchen in Stücke geschnitten. Ein Fleischermesser mit stabilem Griff und feststehender, gut zwanzig Zentimeter langer Klinge. Sie fühlte sich nicht sehr wohl, als sie danach griff. Aber als sie es dann in der Hand hielt, schien es durchaus möglich, damit zuzustoßen.
    Dann stand sie wieder in der Diele, links die Treppe, gegenüber das Wohnzimmer. Der Haustür schenkte sie gar keine Beachtung. Gleich hinauf ins Schlafzimmer. Aber es war wohl einfacher, sich einen Plan zurechtzulegen als ihn auch auszuführen. Etwas in ihr sträubte sich heftig dagegen, den Raum noch einmal zu betreten. Es war einfach das Bewußtsein, daß sie den Dicken töten mußte. Auf andere Weise konnte sie
    den Retlings nicht helfen. Es war unmöglich, die alten Leute unbemerkt aus dem Haus zu bringen, solange der Dicke noch da war. Einen alten Mann, der ohne seine Krücken keinen Schritt gehen konnte. Sie mußten schon an der Treppe scheitern. Und wenn sie die wider Erwarten schafften, wohin dann, wenn nicht ins Wohnzimmer? Die einzige Möglichkeit, ins Freie zu kommen, war die Terrassentür.
    Also hinauf, so oder so, der Dicke mußte aus dem Weg. Frau Retling war sicher bereit, ihn mit ein bißchen Geschrei heraufzulocken. Dann konnte sie hinter der Tür stehen und zustechen, wenn er ins Zimmer kam. Und das konnte sogar funktionieren, wenn er die Pistole dabei hatte. Dann mußte sie eben in seinen Rücken stechen. Sie ging langsam zur Treppe hinüber, quer durch die Diele, mit angehaltenem Atem. Die Augen starr auf die offene Wohnzimmertür gerichtet.
    Sie spürte gar nicht, daß ihre Lippen sich bewegten, schob automatisch einen Fuß vor den anderen, murmelte lautlos vor sich hin, ein paar sinnlose Beschwörungsformeln. Bleib schön sitzen, du Fettwanst. Die Hand mit dem Messer vorgereckt. Die erste Stufe, die zweite.
    Der Dicke schaute sich wieder irgendeine Kindersendung an.
    Sie war ihm fast dankbar dafür. Die Geräuschkulisse verdeckte das schwache Schaben, das bei jedem Schritt entstand, weil die Oberschenkel der Jeans aneinanderrieben. Die Hälfte der Treppe hatte sie bereits geschafft, als der Dicke einmal laut und meckernd auflachte. Dabei klatschte es aus dem Wohnzimmer, als habe er sich vor Vergnügen auf die fetten Schenkel geschlagen. Zuerst fuhr sie in sich zusammen, dann dachte sie, nur weiter so, mein Freund, amüsier dich ruhig.
    Und dann stand sie oben. Noch ein paar Schritte über den Teppich, die Tür öffnen. Dahinter absolute Finsternis. Nur vom Gang fiel ein schmaler, grauer Streifen ins Zimmer. Er reichte nicht sehr weit. Ganz flüchtig dachte sie an ihren Traum, an Eddi, der an der Bar festgebunden war und ihr deshalb nicht
    helfen konnte.
    Sie wartete auf ein Geräusch aus den Betten, daß Frau Retling sich aufrichtete oder sonst was tat. Es blieb still. Dieser Geruch war widerlich, so durchdringend, viel stärker als in der Nacht, so empfand sie es zumindest. Sie atmete nur ganz flach. Als sie die Tür hinter sich schloß, sich mit dem Rücken dagegen lehnte, um einen Augenblick zu verschnaufen, fühlte sie den Druck der Klinke. Und als sie mit der Hand hinfaßte, fühlte sie noch etwas, den Schlüssel.
    Er steckte von innen und bohrte sich wie eine lange Klinge in ihren Rücken. Nicht wirklich, nur die Tatsache, daß er von innen steckte und daß von den Betten her noch nicht der leiseste Ton gekommen war, bohrte sich hinein. Es kam wie ein Wasserfall über sie.
    Sie hätte gar nicht mehr zum Bett gehen müssen. Da atmete nur noch der grüne Schimmer der Digitalziffern. Sie drehte den Schlüssel um. Ihre Hand strich an der Wand hoch, bekam den Lichtschalter zu fassen, drückte ihn. Sie mußte die Augen schließen, im ersten Moment erschien das Licht so grell, nach ein paar Sekunden hatte sie sich daran gewöhnt. Und der Blick wurde wie magisch angezogen von einem kleinen grünen
    Kasten. Ein Telefon, einer von diesen modernen, schnurlosen Apparaten. Er stand auf dem Nachttisch in der
    gegenüberliegenden Ecke.
    Sie mußte um das Bett herum, und zuerst konnte sie sich nicht von der Stelle rühren. So viele Gefühle auf einmal. Panik, Entsetzen, Schuld, Sehnsucht. Die Wälder, die unendlichen, friedlichen
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