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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn
Autoren: Patricia Highsmith
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präzi-sieren, müßte man es vernebeln, denn im Grunde ist sie eine Schriftstellerin jenseits gängiger Kategorien. Die vorliegenden Texte umfassen nicht nur alle Register, die der Autorin zu Gebote standen – psychologische Erzählung, Prosafarce, Kriminal- oder Suspense-Story, Gespenster-und Tiergeschichte –, sie dürften auch eine Rolle bei der Bewältigung persönlicher Konflikte gespielt haben, die das äußerlich ruhige, zurückgezogene Leben von Patricia Highsmith heimsuchten. Dadurch lassen sie sich in mehrfacher Optik lesen: als literarische Erzählungen, als Versuchsanlage für wiederkehrende Motive in ihrem Schreiben und manchmal sogar als chiffriertes Tagebuch.
    Vorausgesetzt, man konfrontiert die Texte mit den 356
    Zeugnissen, die uns in Gestalt der Tage- und Notizbücher der Autorin, die im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern aufbewahrt werden, zur Verfügung stehen.
    Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß Patricia Highsmith einen so bunt gemischten Band aus rund drei Jahrzehnten selbst zusammengestellt und zum Druck befördert hätte.
    Dennoch tut man ihrem Werk damit keine Gewalt an; im Gegenteil, man nimmt es gegen die Selbstzweifel der Schriftstellerin und die Bedingungen, unter denen sie ihren Lebensunterhalt verdiente, in Schutz. Dieser Umstand erlaubt es uns heute, zu Unrecht vergessene Texte von be-trächtlicher Qualität aus dem papiernen Grab ihres Nachlasses zu befreien und nebeneinander ins Licht zu halten.
    Ihr wichtigstes gemeinsames Motiv ist mit einem einzigen Wort benannt: failure – Scheitern.
    Aus Gründen, die sich leider nicht restlos erhellen lassen, scheint mir die Titelerzählung das Juwel der ganzen Sammlung. Nicht viele Leser würden ›Die Augen der Mrs.
    Blynn‹ als Highsmith-Erzählung identifizieren. Es kommt nichts Unheimliches darin vor, nichts Absonderliches oder Abgründiges. Es gibt keine Marotte zu bestaunen, keinen Tick, keine Anomalie. Ein Mord findet erst recht nicht statt. Worum sich die Geschichte dreht, ist nur ein kleines häßliches Kalkül, das einen raschen Blick auf die viel größere Häßlichkeit der Welt freigibt. Diese Häßlichkeit ist nicht reformierbar.
    Eine alte Frau stirbt. Das Haus, in dem sie liegt, ein kleines Haus an der englischen Ostküste, ist nur für ein paar Wochen gemietet, desgleichen die Haushälterin und die Pflegerin. Diese Pflegerin, die verwitwete Mrs. Blynn, 357
    hat selbst einmal in dem Haus gewohnt und sieht jetzt Mrs.
    Palmer beim Sterben zu. Es sind ihre harten Augen, die den Text leitmotivisch durchziehen, ihr Blick liegt auf allem, was die Sterbende um sich versammelt hat, darunter eine Anstecknadel aus Amethyst. Im Notizbuch steht unter dem 24. Juli 1964 der schöne, getragene Satz: »The world widens when death comes near, all that lies in us is apparent – our lens has widened, and certainly it is too much for the average person…«
    Man wünschte sich, Schriftsteller würden ihren Lesern öfter auf derartige Weise die Mühen der Deutung erleich-tern. Daß die Welt »weiter« wird, wenn der Tod näher tritt, daß alles im Menschen Angelegte an die Oberfläche drängt und den, der nicht stirbt, erschrecken könnte – all das geht in der Erzählung leise, fast unmerklich vor sich, es läuft ab mit der Natürlichkeit ruhiger Atemzüge. Womöglich fiel der Autorin die Einfühlung in die alte Dame, die sich unterwegs in der Fremde zum Sterben niederlegt, nicht besonders schwer. Patricia Highsmith selbst zog im Dezember 1963, kurz nach Abschluß der ersten Fassung des Romans Die gläserne Zelle, um einer Freundin willen von Italien nach Aldeburgh in Suffolk (Südengland). Als sie den Ort ein halbes Jahr zuvor besucht, beschreibt sie im Notizbuch die Tristesse und das stürmische Klima: »Es ist schwer vorstellbar, daß jemand freiwillig hier überwintert, nur um Aldeburghs willen. Für die Leute ist es etwas anderes: Sie sind verheiratet und können nicht weg.«
    Genau dieses Nichtwegkönnen – wegen einer Krankheit zum Tode – prägt die Erzählung ›Die Augen der Mrs.
    Blynn‹. Der unbewegliche Körper und der geweitete Blick 358
    sorgen für völlige Klarheit. Alles geschieht, wie es geschehen muß. Im Gesicht der Pflegerin, so heißt es im Notizbuch, sieht Mrs. Palmer »eine kosmische Vision des Lebens und aller Dinge, die darin fehlgeschlagen sind. Die Pflegerin ist wie Unglück, gescheitertes Verständnis, eine falsche Auffassung von gutem Willen, das Verschließen des Herzens« (»a misreading of
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