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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Unterschieden zwischen dieser und der gewohnten Umgebung: überall Licht, die Gänge regelmäßiger als jeder Wasserlauf, ein ungeheuerer Aufwand von Stoffen, und schließlich die magen-
    umdrehenden Empfindungen des Emporschwebens im Steigrohr.
    Als sie die Hauptebene erreichten, erwartete Val, daß sie von Wachen aufgehalten würden, aber sie begegneten niemandem. An strategisch wichtigen Punkten stellte sie Wachen auf, um sich den Rücken frei zu halten. Vor fünfzehn Jahren hatte man im Palast keine elektronische Überwachung gekannt, aber das war während der Regierung des Alten Herrn gewesen; Blaisse, sein Sohn, war von jeher sehr viel mißtrauischer gewesen und empfand die Stadt als eine ständige Bedrohung. Dessenungeachtet kannten alle, die mit ihr gekommen waren, die Gefahr, und alle hatten dem Vorhaben zugestimmt.
     
    In seinen letzten Jahren pflegte der Alte Herr durch diese Hallen und Korridore zu wandern, niemals weit entfernt von seinen privaten Gemächern, und die Kinder mußten ihre Spiele unterbrechen und in schweigender Ehrerbietung verharren, wenn er des Weges kam. Val vermeinte seinen Geist zu sehen, wie er zwischen den silberdurchwirkten Tapisserien und vergoldeten Spiegeln dahinschwebte, wo er sich zu seinen Lebzeiten niemals recht wohl zu fühlen schien.
    Sie schickte ihre Leute durch die Funkräume. Hier würden sie auf Wachen stoßen, aber vielleicht nicht viele, da es Winter war. Alle diese Erinnerungen mußte sie nach vielen Jahren des gewollten Vergessens wieder hervorziehen.
    Der erste Wächter schlief in einem Sessel; Val erinnerte sich, daß es Nacht war, obgleich ihr die gedämpfte Beleuchtung im Zentrum wie heller Tag schien.
    Sie und Simon näherten sich geräuschlos dem Schlafenden. Simon packte ihn bei der Gurgel und würgte ihn, ohne der Fingernägel zu achten, die an seinen Händen krallten, bis der Mann bewußtlos zusammensank. Sie banden ihn mit golddurchwirkten Vorhangschnüren.
    Das Gemach jenseits des kleinen Vorratsraumes war dunkel. Val schlug den Vorhang zurück und ließ einen Streifen Licht ein. »Wer ist da?«
    Für Val war es irgendwie die größte Überraschung von allen, daß sie die Stimme ihrer Cousine vollkommen im Gedächtnis bewahrt hatte. Sie mußte ein wenig nach dem Lichtschalter suchen; er befand sich nicht mehr in Schulterhöhe. Selbst bei der unzureichenden Ernährung im Untergrund war Val gewachsen. Die Beleuchtung strahlte allmählich auf, so justiert, daß sie die empfindlichen Augen einer hochgestellten Person nicht blenden konnten.
    »Hallo, Cousine«, sagte Val.
    Clarissa setzte sich schläfrig blinzelnd in dem breiten, niedrigen Bett aufrecht. Sie war schön und elegant, aber ein harter, mißgünstiger Charakter und Jahre in Wohlleben und Untätigkeit hatten ihre Spuren hinterlassen. Sie hatte sich vielleicht noch stärker verändert als Val. Da sie das Pech gehabt hatte, in ihrer Familie die Erstgeborene zu sein, war sie in den Steinpalast geschickt worden, und hier war es viel zu leicht, nichts zu tun.
    Der hübsche junge Mann neben ihr reagierte auf Clarissas Stimme. Er wälzte sich im Halbschlaf herum, und Val sah die Spuren von Clarissas Fingernägeln und ihrer Peitsche auf seinem Rücken. Clarissa blickte zu ihm und griff sich eine Reitgerte von ihrem Nachttisch. »Wach auf!«
    »Laß das!« rief Val, als Clarissa zum Schlag ausholte. Ihre Cousine hielt in der Bewegung inne und ließ die Hand sinken. Der Junge krümmte sich hinter dem schützend vorgehaltenen Arm.
    »Du pflegtest um Sklaven nie besorgt zu sein.«
    »Ich wußte es nicht besser.« Val war beeindruckt von der Geistesgegenwart und Fassung ihrer Cousine, obgleich sie nicht gewußt hatte, was für eine Reaktion sie erwarten sollte.
    »Also bist du am Leben.«
    »Das war der Sinn der Sache, nicht wahr?«
    »Ja, vielleicht, oberflächlich gesehen. Aber in Wahrheit wollten sie deinen Tod, weißt du. Sie konnten es bloß nicht selbst tun.«
    »Ich weiß. Steh auf, Clarissa!«
     
    Die Wächterin vor Blaisses Privatgemächern war wach, konnte sie jedoch nicht abwehren, ohne die Gemahlin des Herrschers zu gefährden. Val schob ihre Cousine mit der Linken vor sich her, während sie mit der Rechten die Waffe im Anschlag hielt, und erst als die Laserlanze der Wächterin zu Boden fiel, löste sich Clarissas Anspannung. Ihr Lachen hatte schrille Obertöne. »Blaisse wird dir das nicht danken.«
    Sie ließen die Wächterin gefesselt zurück und drangen durch die Bibliothek und über die
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