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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Jeannette Walls
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gut«, sagte er. »Wie fühlst du dich?«
    »Okay«, sagte ich.
    Ich hatte vorher noch nie einen Toten gesehen. Ich hatte mir vorgestellt, es würde mich fix und fertig machen, tat es aber nicht. Ich war nicht unbedingt froh über Maddox’ Tod, obwohl ich ihn ja selbst hatte töten wollen. Vielleicht war ich irgendwie betäubt. Aber auf jeden Fall fühlte ich mich extrem konzentriert, wie in einem Tunnel, der es mir unmöglich machte, nach rechts oder links zu schauen, sondern von mir verlangte, meine volle Aufmerksamkeit auf das zu richten, was vor mir lag, und in Bewegung zu bleiben.
    Onkel Tinsley kurbelte das Fenster auf seiner Seite runter und holte tief Luft. »Riechst du das Waldgeißblatt?«, fragte er.
     
    Als wir zu Haus ankamen, war der Mond aufgegangen, schmal und silbern. Das Verandalicht brannte, und Liz stand wartend auf der obersten Stufe.
    »Was ist passiert?«, rief sie uns zu.
    »Maddox ist tot!«, antwortete ich laut.
    Onkel Tinsley und ich gingen die Stufen hoch. »Es war schon fast dunkel«, erklärte Onkel Tinsley, »und Clarence hat ein Geräusch hinter dem Haus gehört. Er sagt, er hat gedacht, es wäre ein Bär, und hat geschossen. Und dann hat er gesehen, dass es Maddox war.«
    Liz starrte uns einen Moment lang an. »Mir ist schwindelig«, sagte sie. »Mir ist schlecht. Ich muss mich hinlegen.«
    Sie rannte ins Haus. Ich folgte ihr nach oben und den Flur entlang zum Vogeltrakt. Sie warf sich aufs Bett, aber dann setzte sie sich auf und fing an, sich vor und zurück zu wiegen.
    »Onkel Clarence hat nicht gedacht, Maddox wäre ein Bär«, sagte Liz. »Was ist wirklich passiert?«
    Ich setzte mich neben sie und fing an zu erklären, doch Liz brach in Tränen aus. »Alles ist gut«, sagte ich.
    »Nein, ist es nicht«, schluchzte Liz. »Was wird jetzt aus Doris und den Kindern? Was wird aus dem kleinen Baby?«
    »Er hatte Geld und die vielen Häuser, die er vermietet hat«, sagte ich. »Sie ist ohne ihn besser dran.«
    »Aber die Kinder haben jetzt keinen Dad mehr.«
    »Wir haben auch keinen Dad«, sagte ich. »Und wir sind trotzdem zurechtgekommen.«
    »Nein, sind wir nicht. Denk dran, was passiert ist. Und es ist alles meine Schuld.«
    Liz weinte immer lauter. Sie wurde richtig hysterisch, schluchzte und schnappte nach Luft, und ich fürchtete ernsthaft, sie hätte einen richtigen Nervenzusammenbruch und würde vielleicht wieder Schlaftabletten nehmen oder irgendwas anderes machen, was genauso schlimm wäre. Dann fing sie an, den Kopf zu schütteln und vor sich hin zu reden: Sie hatte Maddox getötet, Maddox getötet, den Ochs getötet, erschossen, erlegt, sie hatte den Ochs getötet, sie hatte den bösen Bären erlegt, die dunkle Box, der Ochs, der böse Bär, der böse Ochs, der Bär, die dunkle Box, die große Falle, der Rücksitz, der schwarze Wagen – sie hatte ihn anhalten lassen, und es war alles ihre Schuld, ihre Schuld, ihre Schuld.
    »Es ist nicht deine Schuld«, sagte ich. »Er hat alles angefangen. Aber jetzt ist es vorbei.« Ich streichelte ihr Haar und sagte immer wieder: »Es ist nicht deine Schuld. Es ist vorbei, es ist alles vorbei«, und nach einer Weile hörte sie auf zu weinen und schlief ein.
    Ich blieb bei ihr sitzen und lauschte auf ihr gleichmäßiges Atmen. Schließlich stand ich auf, um das Licht auszumachen, und da sagte Liz plötzlich: »Nimm dich in Acht vor der Bärenmacht.«
    Ich schaute zu ihr hinab. Liz redete im Schlaf.

56
    E hrlich gesagt, ich hatte Angst, dass es vielleicht doch nicht vorbei war. Was, wenn jemand gesehen hatte, wie wir auf dem Parkplatz in Maddox’ Wagen gestiegen waren? Was, wenn ein Nachbar auf dem Weberhügel gesehen hatte, wie wir drei zu den Wyatts fuhren? Auf alle Fälle musste sich die Polizei doch fragen, was zum Teufel Maddox im Garten der Wyatts verloren gehabt hatte.
    Der nächste Tag war Sonntag. Als ich aufwachte, füllte die Morgensonne das Schlafzimmer, und die Vögel vor unserem Fenster machten wie immer Radau. Liz lag neben mir und schlief ungestört weiter, und ich sah das als ein gutes Zeichen. Onkel Tinsley war schon unten. Er trug einen Seersucker-Anzug und eine gestreifte Krawatte. Er sagte, er würde in die Stadt fahren um, wie er es ausdrückte, sich sehen zu lassen und die Stimmung unter den Leuten zu sondieren. Und das machte man am besten in der Baptistenkirche und im Bulldog Diner.
    Kurze Zeit später wachte Liz auf. Sie wirkte erholt, sah aber immer noch blass und zerbrechlich aus. Den Morgen verbrachte sie
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