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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht
Autoren: Marisha Pessl
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Einsatz altmodisch wirkte.
    Der Bus bog nach Westen auf die East 116 th ab, fuhr an verlassenen Sozialbauten, leerstehenden Grundstücken, an ramponierten Kirchen –
Erlösung und Errettung
stand auf einem Schild – und an Männern vorbei, die an Straßenecken herumlungerten.
    Irgendwas stimmt nicht
, dachte ich bei mir.
Beim letzten Mal war Sharon jetzt schon eingestiegen.
Ich sah auf mein Telefon, aber es zeigte keinen verpassten Anruf und keine SMS an. Unser Gespräch am Tag zuvor war nicht sehr vielversprechend gewesen, und sie hatte mir nicht wirklich versprochen, mir zu helfen.
    »Morgen Nacht. Selber Ort, selbe Zeit«, hatte sie kurz angebunden gesagt und aufgelegt.
    Als der Bus auf den Malcolm-X-Boulevard abbog, glaubte ich langsam, sie habe mich versetzt, doch dann fuhren wir plötzlich vor einem maroden Stadthaus rechts ran. Eine einsame Gestalt stand am Straßenrand. Die Türen öffneten sich, und Sekunden später eilte Detective Sharon Falcone auf mich zu – als hätte sie die ganze Zeit genau gewusst, wo ich saß.
    Sie sah aus wie früher: noch immer 1 , 60 Meter und grimmig, mit schmalen Lippen und ernstem Blick, einer Stupsnase, die sich zur Spitze hin nach oben bog wie ein Hobelspan. Sie war nicht
un
attraktiv. Aber irgendwie
seltsam
. Sharon hätte als blasse Nonne durchgehen können, die aus einem Porträt aus dem 15 . Jahrhundert im Flügel für Flämische Malerei im Metropolitan herausstarrte. Nur beherrschte der Maler die menschlichen Proportionen nicht
ganz
, so dass er ihr einen zu langen Hals, ungleiche Schultern und zu kleine Hände verpasst hatte.
    Sie rutschte auf den Sitz neben mir, beäugte die anderen Fahrgäste und ließ ihre schwarze Umhängetasche zu ihren Füßen fallen.
    »Es gibt so viele M 102 -Busse in so vielen Städten auf der ganzen Welt, und du steigst ausgerechnet in meinen ein«, sagte ich.
    Sie lächelte nicht. »Ich habe nicht viel Zeit.« Sie öffnete ihre Tasche, zog einen weißen DIN - A 4 -Umschlag heraus und reichte ihn mir. Ich ließ einen dicken Stapel Papier herausgleiten. Das erste Blatt war die Fotokopie einer Akte.
    Fall Nr.  21 – 24 – 7232 .
    »Wie laufen die Ermittlungen?«, fragte ich, schob alles zurück in den Umschlag und steckte ihn in meine Tasche.
    »Das fünfte Revier kümmert sich darum. Sie haben jeden Tag hundert Anrufe. Anonyme Hinweise, aber alles Schwachsinn. Letzte Woche wurde Ashley in einem McDonald’s in Chicago gesehen. Drei Tage davor in einem Club in Miami. Sie haben jetzt schon zwei Mordgeständnisse.«
    »War es denn Mord?«
    Sharon schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist gesprungen.«
    »Sicher?«
    Sie nickte. »Es gibt keine Anzeichen für einen Kampf. Sie hat ihre Schuhe und Socken ausgezogen und nebeneinander am Rand abgelegt. So eine planvolle Vorbereitung passt sehr gut zum Selbstmord. Es gab keine Obduktion. Ich weiß nicht, ob es eine geben wird.«
    »Warum nicht?«
    »Der Anwalt der Familie hat da seine Finger im Spiel. Religiöse Gründe. Für Juden ist es ein Sakrileg, den Leichnam zu schänden.« Sie runzelte die Stirn. »Mir ist aufgefallen, dass in der Akte ein paar Fotos fehlen. Der Rumpf von vorne und von hinten. Ich denke, die werden in einer anderen Akte aufbewahrt, damit sie nicht irgendein kranker Typ zur Veröffentlichung an SmokingGun.com weitergibt.«
    »Todesursache?«
    »Das Übliche bei Springern. Massive Blutungen. Genickbruch, Herzmuskelriss, zahlreiche Rippenbrüche und eine Schädelfraktur.«
    »Wann hat sie’s getan?«
    »Vor etwas mehr als einer Woche. Sie lag da drei oder vier Tage, bevor sie gefunden wurde. Außerdem war sie vor ungefähr einem Monat in eine protzige Privatklinik Upstate eingewiesen worden. Sie haben sie zehn Tage vor ihrem Sprung als vermisst gemeldet.«
    Ich sah sie überrascht an. »Wieso? Ist sie abgehauen?«
    Sie nickte. »Eine Krankenschwester hat bestätigt, dass Ashley um elf Uhr abends in ihrem Zimmer war, das Licht war aus. Um
acht
am nächsten Morgen war sie weg. Aus irgendeinem Grund taucht sie nur auf einer einzigen Überwachungskamera auf – das ist verrückt, die sind da ausgestattet wie das Pentagon. Man kann ihr Gesicht nicht sehen. Sie ist nur eine Gestalt im weißen Schlafanzug, die über den Rasen läuft. Ein Mann war bei ihr.«
    »Wer ist der Mann?«
    »Weiß man nicht.«
    »Warum war sie in der Klinik? Drogenprobleme?«
    »Ich glaube, sie wussten einfach nicht, was sie verdammt nochmal hatte. Da drin sind auch ein paar Seiten eines medizinischen
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