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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht
Autoren: Marisha Pessl
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stand
Ashley
drauf.
    Ich öffnete ihn und zog den Inhalt heraus: ein Blatt Papier und eine CD .
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5
    Damals war ich so auf Cordova fixiert gewesen, dass ich diesem Artikel über herausragende Studenten im ersten Studienjahr keine große Beachtung geschenkt hatte. Ich hatte mir nicht einmal die CD angehört.
    Unter Verwendung des Originals © Anke Van Wyk/Dreamstime.com
    Ich riss die Plastikfolie ab, legte die CD in die Anlage und drückte Play. Erst war lange gar nichts zu hören, und dann: das Klavier.
    Die ersten paar Takte waren hoch, eindringlich, schnell und sicher. Es schien unvorstellbar, dass die Person, die sie spielte, erst vierzehn war. Die Töne plätscherten dahin, für einen Augenblick ganz weich, doch dann wirbelten sie zu einem furiosen Ausbruch auf, wie ein Maschinengewehr, das die Luft zum Explodieren brachte.
    Während ich zuhörte, vergingen die Minuten, und plötzlich bemerkte ich leise Schritte auf dem Holzfußboden vor meinem Büro.
    Es war Sam.
Sie hatte seit kurzem die Angewohnheit, mitten in der Nacht aufzuwachen. Der Türknauf drehte sich, und meine Tochter stand in der Tür, noch halbschlafend und in ihrem rosa Nachthemd.
    »Hallo, Schatz.«
    Sie rieb sich die Augen und kam zu mir herüber getapst. Sie hatte Cynthias Schönheit geerbt, inklusive der umwerfenden blonden Ringellocken, die sie wie einen Engel aus der Sixtinischen Kapelle aussehen ließen.
    »Was machst du hier drin?«, fragte sie mit leiser, ernster Stimme.
    »Recherche.«
    Sie stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und trat mit dem Fuß seltsam nach hinten. Sie war gerade in der Phase, in der sie sich ständig verbog, ihre Arme verknotete und sich verdrehte, als würde sie die ganze Zeit Twister spielen. Sie blinzelte den Amherst Artikel an.
    »Wer ist das?«, fragte sie.
    »Ashley.«
    »Wer ist Ashley?«
    »Jemand, der in Schwierigkeiten steckt.«
    Sie sah mich besorgt an. »Hat sie was Schlimmes gemacht?«
    »Nicht solche Schwierigkeiten, Schatz. Eher ein Geheimnis.«
    »Was für ein Geheimnis?«
    »Weiß ich noch nicht.«
    So lief das zwischen uns. Sam schoss ihre Fragen in die Luft, und ich versuchte verzweifelt, sie zu beantworten. Durch Cynthias unangreifbaren Sorgerechtsplan und Sams viele Verabredungen zum Spielen und zum Ballett bekam ich sie leider nicht oft zu sehen. Das letzte Mal war vor mehr als drei Wochen bei einem Ausflug in den Bronx Zoo gewesen. Dabei wurde deutlich, dass sie jedem Flachlandgorilla aus dem Regenwald des Kongo – sogar dem hundertachtzig Kilo Silberrücken – tausendmal mehr vertraute als mir. Sie hatte ihre Gründe.
    »Komm.« Ich stand auf. »Ich bring dich wieder ins Bett.«
    Ich hielt ihr die Hand hin, aber Sam runzelte nur die Stirn, ihr Blick war voller Zweifel. Sie schien schon zu wissen, was ich erst nach dreiundvierzig Jahren herausgefunden hatte, nämlich dass wir Erwachsenen zwar
groß
waren, aber unser Wissen über irgendwas, auch über uns selbst, nur
klein
. Das Spiel war aus, seit sie ungefähr drei war. Und wie ein zu Unrecht Verurteilter, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, hatte sich Sam damit abgefunden, ihre Strafe (die Kindheit) mit ihren unfähigen Aufsehern (Cynthia und mir) abzusitzen, bis sie auf Bewährung herauskam.
    »Was hältst du davon, wenn wir nach oben gehen und deinen
Wolkenschlafanzug
suchen?«, fragte ich.
    Sie nickte eifrig und erlaubte mir, sie nach oben zu bringen, wo sie geduldig auf dem Bett saß, während ich mich durch ihren Kleiderschrank wühlte. Der
Wolkenschlafanzug
 – blaues Flanell mit Cumuluswolken bedruckt – war das Einzige, was ich richtig gemacht hatte. Ich hatte ihn in einem hippen Kinderladen in SoHo gekauft. Er war Sams Lieblingsteil, und manchmal weinte sie, wenn sie ihn nachts nicht anziehen konnte. Cynthia und ich waren gezwungen gewesen, ein zweites und sogar ein drittes Exemplar des Schlafanzugvolltreffers anzuschaffen, damit Sam immer darin schlafen konnte – ich sah das als kleinen, aber wichtigen persönlichen Triumph an. Heute Abend aber hatte Jeannie ihn nicht gefunden, was zu jeder Menge Tränen beim Schlafengehen geführt hatte.
    Ich durchsuchte jeden Zentimeter von Sams Kleiderschrank und fand ihn schließlich auf einem hinteren Regal. Ich holte ihn mit großer Geste hervor – Sam mochte es, wenn ich wie Rudolph Valentino im Stummfilm schauspielerte. Wir zogen den Schlafanzug an, und ich deckte sie zu.
    »Fester«, wies sie mich an.
    Ich
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