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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht
Autoren: Marisha Pessl
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langsam besser, als ich mit einer attraktiven Kellnerin namens Maisie im Bett landete – bis mir auffiel, dass sie möglicherweise eine entfernte Cousine von mir war. Wenn du denkst, du kannst nicht tiefer sinken, öffnet sich die nächste Falltür.
    Ich kippte den Scotch hinunter – sofort fühlte ich mich ein bisschen
lebendiger
 –, goss mir noch einen ein und ging zum Wandschrank hinter meinem Schreibtisch.
    Ich hatte mich seit mindestens einem Jahr nicht mehr dort hineingewagt.
    Die Tür klemmte und ließ sich nur mit Gewalt öffnen. Ich kickte alte Turnschuhe und die Blaupausen des Strandhauses in Amagansett zur Seite, das ich im Bemühen, in letzter Sekunde »alles wieder in Ordnung zu bringen« für Cynthia hatte kaufen wollen.
Das Millionen-Dollar-Ehe-Pflaster, keine gute Idee.
Ich zerrte hervor, was die Tür versperrte, ein gerahmtes Foto von Cynthia und mir, aufgenommen, als wir auf einer Ducati durch Brasilien unterwegs waren und nach illegalen Goldminen suchten. Wir waren so verliebt, dass wir uns nicht vorstellen konnten, es einmal nicht mehr zu sein.
Gott, sie war umwerfend.
Ich warf das Bild beiseite, schob Stapel von
National Geographic
aus dem Weg und fand, was ich suchte – einen Karton.
    Ich zog ihn heraus, schleppte ihn zum Schreibtisch und setzte mich auf meinen Stuhl. Dann starrte ich auf den Karton.
    Das Klebeband, mit dem ich ihn versiegelt hatte, löste sich ab.
    Cordova.
    Ich hatte fünf Jahre zuvor eher zufällig entschieden, mich mit diesem Mann zu beschäftigen. Ich war gerade von einem anstrengenden sechswöchigen Aufenthalt in Freetown, einem Slum in Sierra Leone, zurückgekommen. Um circa drei Uhr nachts – ich war durch den Jetlag hellwach – klickte ich einen Artikel über
Amy’s Light
an, die gemeinnützige Organisation, die das Internet nach Cordovas
Black Tapes
absucht, um sie zu kaufen und zu zerstören. Die Organisation war von einer Mutter gegründet worden, deren Tochter auf brutale Weise von einem Nachahmungstäter getötet worden war. Genau wie der Mörder in »Warte hier auf mich« hatte Hugh Thistleton ihre Tochter Amy an einer Straßenecke entführt, wo sie darauf wartete, dass ihr Bruder aus einem 7 -Eleven kam. Er hatte sie zu einer stillgelegten Papiermühle gebracht und sie durch die Maschinen gejagt.
    Eine Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat zu verhindern, dass Cordova unsere Jugend infiziert
, so stand es auf der Website amyslight.org. Ich fand dieses Mandat rührend, weil es so unmöglich war – der Versuch, das Internet von Cordova zu befreien, war, als wolle man den Amazonas von Insekten befreien. Außerdem war ich anderer Meinung. Für einen Journalisten sind die Rede- und Ausdrucksfreiheit Grundpfeiler – Prinzipien, die so tief im Fundament Amerikas verankert sind, dass es den Ruin unseres Landes bedeuten würde, an ihnen zu rütteln. Ich war zudem strikt gegen jede Form von Zensur – Cordova konnte genauso wenig für Amy Andrews grausamen Tod verantwortlich gemacht werden wie die Fleischindustrie dafür, dass Amerikaner an Herzinfarkt sterben. So sehr manche Leute auch für ihren eigenen Seelenfrieden glauben wollten, dass das Böse in der Welt eine eindeutige Ursache hatte, so einfach war die Wahrheit nie.
    Bis zu dieser Nacht hatte ich über Cordova kaum je länger nachgedacht, außer dass mir seine frühen Filme gut gefallen (und mir ziemliche Angst gemacht) hatten. Mir Gedanken über die Motive eines zurückgezogen lebenden Regisseurs zu machen, war weder mein berufliches Ziel noch mein Spezialgebiet. Ich nahm Geschichten in Angriff, bei denen es um etwas ging, wo Leben oder Tod auf dem Spiel standen. Wenn ich nach einem neuen Thema suchte, tendierte mein Herz zu den allerhoffnungslosesten der hoffnungslosen Fälle.
    Doch
irgendwann
in dieser Nacht fing ich Feuer.
    Vielleicht lag es daran, dass Sam nur wenige Monate zuvor geboren war und ich, plötzlich mit dem Vatersein konfrontiert, empfänglicher als sonst für die Idee war, dieses so schöne, unbeschriebene Blatt – und jedes andere Kind – vor den destabilisierenden Schrecken, für die Cordova stand, zu schützen. Was auch immer der Grund war, je länger ich mich durch Hunderte von Cordova-Blogs, Fanseiten und anonyme Foren klickte, in denen viele Beiträge von Kindern stammten, die erst neun oder zehn sein mussten, desto eindringlicher wurde mein Gefühl, dass mit Cordova etwas nicht stimmte.
    Im Rückblick erinnerte mich diese Erfahrung an einen alkoholkranken
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