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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht
Autoren: Marisha Pessl
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steifer Gang, als wartete sie auf mich. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass sie sich, wenn ich sie überholte, umdrehen und ein Gesicht offenbaren würde, das nicht jung war, sondern
alt
. Das schwer gezeichnete Gesicht einer alten Frau würde mich mit leeren Augen anstarren und einem Mund wie einem Axthieb.
    Sie war jetzt direkt vor mir.
    Sie würde die Hand ausstrecken und mich am Arm packen, und ihr Griff würde stark sein wie der eines Mannes,
eiskalt
 …
    Ich lief vorbei, aber sie hielt den Kopf gesenkt, das Gesicht von den Haaren verdeckt. Als ich mich wieder umblickte, war sie schon aus dem Licht getreten und nicht viel mehr als eine gesichtslose Form, die man aus der Dunkelheit ausgeschnitten hatte, die Schultern rot umrandet.
    Ich lief weiter und nahm eine Abkürzung. Der Pfad wand sich durchs dichte Gebüsch, und die Zweige schlugen mir gegen die Arme.
Wenn ich das nächste Mal an ihr vorbeikomme, halte ich an und rede mit ihr – ich sage ihr, sie soll nach Hause gehen.
    Doch als ich die nächste Runde absolvierte, war keine Spur von ihr. Ich sah beim Hang nach, der zu den Reitwegen hinabführte.
    Nichts.
    Nach wenigen Minuten war ich am nördlichen Torhaus – ein Steingebäude, das von den Laternen nicht erreicht wurde und in Dunkelheit getaucht war. Ich konnte nicht viel mehr erkennen als eine schmale Treppe, die zu einer verrosteten Flügeltür führte, die mit Ketten verschlossen war. Daneben hing ein Schild: BETRETEN VERBOTEN ! EIGENTUM DER STADT NEW YORK .
    Als ich näher kam, sah ich mit Erschrecken, dass sie da oben war, sie stand auf dem Treppenabsatz und starrte zu mir hinab.
Oder sah sie durch mich hindurch?
    Bis ich es vollständig realisiert hatte, war ich schon blind weitergelaufen. Doch was ich in diesem Sekundenbruchteil gesehen hatte, schwebte mir vor Augen, als hätte jemand mit Blitz fotografiert: wirres Haar, der blutrote Mantel in der Dunkelheit faulig braun, ein Gesicht so komplett im Schatten, dass es mir denkbar erschien, dass es gar nicht da gewesen war.
    Offensichtlich
hätte ich den vierten Scotch nicht trinken dürfen. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte etwas mehr dazugehört, mich zu erschüttern.
Scott McGrath, ein Journalist, der zur Hölle fahren würde, um den Teufel zu interviewen
, hatte einmal ein Blogger geschrieben. Ich hatte das als Kompliment aufgefasst. Gefängnisinsassen, die sich die Gesichter mit Schuhcreme und Pisse tätowierten, bewaffnete, mit
Pedra
zugedröhnte Teenager aus der Favela Vigário Geral, schwere Jungs aus Medellín, die jedes Jahr auf Riker’s Island Urlaub machten – all das schreckte mich nicht. Es gehörte einfach zur Szenerie dazu.
    Doch jetzt reichte eine Frau im Dunkeln, um mich zu verunsichern.
    Sie musste betrunken sein. Oder sie hatte zu viel Xanax genommen.
Oder
es war eine Art kranke Mutprobe – ein fieses Mädchen von der Upper East Side hatte sie dazu angestiftet. Vielleicht war das Ganze aber auch eine Falle, und ihr Kanalratten-Freund wartete irgendwo darauf, mich zu überfallen.
    Wenn
das
der Plan war, würden sie enttäuscht sein. Ich hatte keine Wertsachen dabei außer meinen Schlüsseln, einem Taschenmesser und meiner MetroCard, die ungefähr acht Dollar wert war.
    Gut, vielleicht machte ich gerade eine
schwere Zeit
durch, eine
Pechsträhne
, oder wie auch immer man das nennen mochte. Vielleicht hatte ich mich nicht mehr verteidigt seit – naja,
strenggenommen
seit den späten Neunzigern. Aber wie man um sein Leben kämpft, vergisst man nicht. Und es ist nie zu spät, sich zu erinnern, es sei denn, man ist tot.
    Die Nacht war unnatürlich still,
geräuschlos
. Der Nebel war vom Wasser weg in die Bäume gezogen und hatte den Weg wie eine Krankheit befallen, Abgase von etwas, das hier in der Luft lag, etwas Bösartigem.
    Eine Minute später kam ich wieder zum nördlichen Torhaus. Ich rannte vorbei und erwartete, sie auf dem Treppenabsatz zu sehen.
    Er war menschenleer. Von ihr war nirgendwo eine Spur.
    Und doch, je länger ich lief und je weiter sich der Pfad wie ein Tunnel zu einer dunklen neuen Dimension vor mir abspulte, desto mehr kam mir die Begegnung unvollständig vor, ein Lied, das zu früh ausgeblendet wird, ein Filmprojektor, der Sekunden vor der zentralen Verfolgungsjagd stotternd zum Stehen kommt und nur eine weiße Leinwand hinterlässt. Ich wurde das eindringliche Gefühl nicht los, dass sie noch
hier
war, sich irgendwo versteckt hielt und mich beobachtete.
    Ich hätte schwören können, dass da
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