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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht
Autoren: Marisha Pessl
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ein Hauch von Parfüm den feuchten Geruch von Schlamm und Regen durchdrang. Ich blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Schatten am Hang und rechnete damit, jeden Augenblick ihren leuchtend roten Mantel zu entdecken. Vielleicht saß sie auf einer Bank oder stand auf der Brücke.
War sie hier, um sich etwas anzutun?
Was, wenn sie auf das Geländer kletterte, dort wartete und mich mit einem Blick ohne jede Hoffnung anstarrte, bevor sie sprang und wie ein Sack Steine auf die tief unter ihr liegende Straße fiel?
    Vielleicht hatte ich einen
fünften
Scotch getrunken, ohne es zu merken. Oder diese verdammte Stadt setzte mir langsam zu. Ich lief die Treppe hinunter, den East Drive entlang und raus auf die Fifth Avenue. Dann bog ich in die East 86 th Street ab. Inzwischen regnete es heftig. Ich joggte drei Blocks, vorbei an verriegelten Restaurants und hellen Foyers, aus denen ein paar Portiers gelangweilt nach draußen sahen.
    Beim Lexington-Eingang zur Subway hörte ich das Rumpeln eines herannahenden Zuges. Ich sprintete die nächste Treppe hinab, zog meine MetroCard durch den Schlitz und drängte mich durch das Drehkreuz. Ein paar Menschen warteten am Bahnsteig – zwei Teenager, eine ältere Dame mit einer Bloomingdale’s-Tüte.
    Der Zug schlitterte in den Bahnhof und kam kreischend zum Stehen. Ich stieg in einen leeren Wagen ein.
    »Dies ist ein Four-Train in Richtung Brooklyn. Nächster Halt 59 th Street.«
    Ich schüttelte den Regen ab und starrte hinaus auf die menschenleeren Bänke und eine graffitiübersäte Reklame für einen Sciencefiction-Film. Jemand hatte den rennenden Mann auf dem Plakat erblinden lassen, indem er die Augen mit schwarzem Filzstift übermalt hatte.
    Die Türen schlugen zu. Mit einem Ächzen der Bremsen setzte sich der Zug in Bewegung.
    Und dann bemerkte ich mit einem Mal, wer da langsam die Treppe in der hinteren Ecke herunterkam – glänzende schwarze Stiefel und
Rot
, ein roter Mantel. Während sie immer weiter hinabstieg, wurde mir klar, dass sie es war, das Mädchen vom Reservoir See, der Geist –
oder was zur Hölle sie auch war
. Doch bevor ich das so Unwahrscheinliche begreifen konnte, bevor mein Verstand aufschreien konnte,
Sie ist hinter mir her
, war der Zug schon im Tunnel, die Fenster wurden schwarz, und ich starrte nur noch mich selbst an.

1
    Ein großer Kronleuchter tauchte die Menge in ein goldenes Licht, während ich die Party in einem Bronzespiegel über dem Kamin inspizierte. Erschrocken sah ich jemanden, den ich kaum erkannte: mich selbst. Blaues Button-Down-Hemd, Sakko, dritter oder vierter Drink – ich hatte nicht mitgezählt – und gegen eine Wand gelehnt, als würde ich sie stützen. Ich sah nicht aus, als wäre ich auf einer Cocktail-Party, sondern als würde ich auf einem Flughafen darauf warten, dass mein Leben startet.
    Unendlich verspätet.
    Jedes Mal, wenn ich mich auf einer dieser Wohltätigkeitsveranstaltungen wiederfand, verschollene Szenen meines Ehelebens, fragte ich mich, wieso ich immer wieder herkam.
    Vielleicht stand ich gerne einem Erschießungskommando gegenüber.
    »Scott McGrath, schön dich zu sehen!«
    Ich wünschte, das könnte ich auch behaupten
, dachte ich.
    »Arbeitest du gerade an ’ner coolen Sache?«
    An meinen Bauchmuskeln.
    »Gibst du noch diesen Journalismus-Kurs an der New School?«
    Sie haben mir nahegelegt, ein Sabbatjahr einzulegen. Anders formuliert: Ich wurde eingespart.
    »Ich wusste gar nicht, dass du noch in der Stadt bist.«
    Ich wusste nie, was ich
darauf
sagen sollte. Dachten sie, ich sei im Exil auf St. Helena, wie Napoleon nach Waterloo?
    Auf dieser Party war ich durch eine der Freundinnen meiner Exfrau Cynthia gelandet, eine Frau namens Birdie. Ich fand es amüsant und schmeichelhaft, dass lange nachdem meine Frau sich von mir hatte scheiden lassen und in blauere Gewässer davongeschwommen war, noch immer ein dichter Schwarm ihrer Freundinnen um mich herumwirbelte wie um ein interessantes Schiffswrack, als suchten sie nach Trümmern, die sie bergen und mit nach Hause nehmen könnten. Birdie war blond, in den Vierzigern, und war mir seit fast zwei Stunden nicht von der Seite gewichen. Ab und zu drückte sie meinen Arm – ein Signal, dass ihr Ehemann, irgend so ein Hedgefond-Typ (
hedge fungi
), nicht in der Stadt war und die drei Kinder bei einer Nanny interniert waren. Nur der Wunsch der Gastgeberin, Birdie ihre frisch renovierte Küche zu zeigen, hatte die Frau von meiner Seite losgeeist.
    »Beweg dich
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