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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht
Autoren: Marisha Pessl
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spürte, völlig zu Recht, dass der Bereich zwischen zwei Menschen, die
früher
einmal Seelenverwandte gewesen waren, aber
nun nicht mehr
, einer Wanderung durch Pakistans Stammesgebiete gleichkam.
    »Sie wird Sie anrufen«, sagte sie leise.
    »Gute Nacht, Jeannie.«
    Mit einem zweifelnden Seufzen verließ sie die Wohnung. Ich betrat mein Büro, schaltete die Schreibtischlampe ein und schubste die Tür zu.
    Santa Barbara, leck mich am Arsch.

3
    Mein Büro war klein, ein vernachlässigter, grün gestrichener Raum voller Aktenschränke, Fotos, Zeitschriften und Bücherstapel.
    Auf meinem Schreibtisch stand ein gerahmtes Bild von Samantha, das am Tag ihrer Geburt gemacht worden war, ihr Gesicht uralt und elfenhaft. An der Wand hing ein Filmplakat eines lässig, aber erschöpft aussehenden Alain Delon in »Le Samouraï«. Das Poster hatte mir mein alter Redakteur bei
Insider
geschenkt. Er hatte gesagt, ich erinnere ihn an die Hauptfigur – ein einsamer, französischer, existentialistischer Auftragskiller –, was kein Kompliment war. Auf der anderen Seite des Zimmers stand ein durchgesessenes braunes Ledersofa, das noch aus meiner Phi-Psi-Verbindungszeit an der University of Michigan stammte (ich hatte darauf meine Unschuld verloren und meine besten Geschichten in die Tastatur der blauen Galaxie-Smith-Corona-Schreibmaschine meines Vaters gehämmert). Darüber hingen die gerahmten Umschläge meiner Bücher –
Die MasterCard-Nation
,
Auf der Jagd nach Captain Hook: Piraten auf offener See
,
Dreck: Die schmutzigen Geheimnisse der Öl-Industrie
,
Kokain und Karneval
. Sie waren verblasst, das Design sah sehr nach späten Neunzigern aus. Außerdem waren dort Kopien meiner bekannteren Artikel für
Esquire
,
Time
und
Insider
. »Auf der Suche nach El Dorado«, »Inferno im schwarzen Schnee: Überleben in einem sibirischen Gefängnis.« Durch zwei riesige Fenster gegenüber der Tür hatte man freien Blick auf die Perry Street und eine angeschlagene Pappel, auch wenn es jetzt zu dunkel war, um sie zu sehen.
    Ich ging zum Bücherregal in der Ecke. Daneben hing ein Foto, auf dem ich einem
Hecatao
-Flusshändler in Manaus den Arm um die Schulter lege. Ich sehe darauf auf irritierende Weise
glücklich
und
braungebrannt
aus –
ein Schnappschuss aus einem vergangenen Leben
. Ich goss mir einen Scotch ein.
    Ich hatte sechs Kästen Macallan Cask Strength gekauft, als ich 2007 drei Wochen lang durch Schottland gefahren war. Die Reise hatte ich auf die geniale Anregung meines Psychiaters, Dr. Weaver, hin unternommen, nachdem Cynthia mich informiert hatte, dass sie und meine neun Monate alte Tochter mich für Bruce verlassen würden – einen Hedgefonds-Manager, mit dem sie eine Affäre hatte.
    Es war wenige Monate, nachdem Cordova mir die Verleumdungsklage reingedrückt hatte. Man sollte meinen, dass Cynthia die schlechten Neuigkeiten aus Mitleid rationiert hätte, dass sie mir zunächst sagte, ich sei zu viel unterwegs,
dann
, dass sie untreu gewesen war,
dann
, dass sie sich verknallt hatte, und zum Schluss erst, dass sie und Bruce sich von ihren jeweiligen Partnern scheiden ließen, um zusammen sein zu können. Stattdessen kam alles an einem Tag – wie ein ruhiger Küstenort, der von einer Hungersnot geplagt wird und dazu noch eine Schlammlawine, einen Tsunami, einen Meteoriteneinschlag und, zu allem Überfluss, eine Außerirdischeninvasion einstecken muss.
    Aber vielleicht war es auch besser so: In dieser Verkettung von Katastrophen gab es schon recht früh nichts mehr zu zerstören.
    Der Zweck meiner Schottlandreise war es, einen neuen Anfang zu machen, ein neues Kapitel aufzuschlagen – meine Ursprünge und damit
mich selbst
kennenzulernen, indem ich den Ort besuchte, wo vier Generationen von McGraths geboren und gediehen waren: eine winzige Stadt in Moray, Schottland, namens Fogwatt. Schon der Name hätte mir verraten können, dass es kein Brigadoon war. Wie sich herausstellte, war das Ergebnis von Dr. Weavers Vorschlag ungefähr so, als hätte ich erfahren, dass meine Vorfahren aus der Abteilung für geisteskranke Straftäter in Bellevue stammten. Fogwatt bestand aus ein paar windschiefen weißen Gebäuden, die sich an einen grauen Hang klammerten wie die letzten paar Zähne in einem alten Mund. Frauen schleppten sich mit den verhärmten Gesichtern von Menschen durch die Stadt, die die Pest überlebt hatten. Schweigsame, rotgesichtige fette Männer saßen wie Pusteln in den Bars der Stadt. Ich dachte schon, es würde
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