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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht
Autoren: Marisha Pessl
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Gutachtens.«
    »Wann hat die Klinik sie als vermisst gemeldet?«
    »Am 30 . September. Steht im Bericht.«
    »Und wann ist sie gesprungen?«
    »Am 10 ., spät nachts. Um elf oder zwölf Uhr.«
    »Wo war sie in den zehn, elf Tagen dazwischen?«
    »Niemand hat auch nur die geringste Ahnung.«
    »Wurden ihre Kreditkarten benutzt?«
    Sharon schüttelte den Kopf. »Das Handy war auch ausgeschaltet. Sie muss es absichtlich nicht angeschaltet haben. Anscheinend wollte sie nicht gefunden werden. In den zehn Tagen wurde sie nur einmal nachweislich gesehen. Als man die Leiche fand, trug sie nur Jeans und T-Shirt. In der Hosentasche fand man eine Garderobenmarke. Auf der Rückseite sind vier Bäume abgebildet. Man hat die Marke zum Four Seasons zurückverfolgt. Du weißt schon, dieser Schuppen auf der Park Avenue.«
    Ich nickte. Es war eines der teuersten Restaurants der Stadt, obwohl es eher wie ein Schutzgebiet für seltene Tierarten daherkam. Man zahlte einen exorbitanten Eintrittspreis ( 45  Dollar für Krabbenpuffer), um zuzusehen – natürlich ohne sie zu
stören
 –, wie die Privilegierten und Mächtigen von New York fraßen und ihre Rangkämpfe ausfochten und dabei alle Erkennungsmerkmale ihrer Gattung an den Tag legten: harte Mienen, dünner werdendes Haar, stahlgraue Anzüge.
    »Das Mädchen von der Garderobe hat sie identifiziert«, sagte Sharon. »Ashley kam ungefähr um zehn, aber ging nach wenigen Minuten wieder,
ohne
ihren Mantel, und kam nicht mehr zurück. Vier Stunden später sprang sie.«
    »Sie muss da jemanden getroffen haben.«
    »Weiß man nicht.«
    »Aber jemand wird der Sache nachgehen.«
    »Es liegt kein
Verbrechen
vor.« Sie beäugte mich scharf. »Um zu diesem Aufzugschacht zu gelangen, musste das Mädchen in ein verlassenes Gebäude hineinkommen, ein berüchtigter Treff der Hausbesetzer, die
Hängenden Gärten
. Dann auf dem Dach, musste sie sich durch ein Dreißig-Zentimeter-Dachfenster quetschen. Nur wenige Menschen sind klein genug, um durch eine so enge Öffnung zu passen, schon gar nicht, wenn sie dabei jemanden gegen seinen Willen festhalten. Man hat alles nach Spuren abgesucht. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass außer ihr noch jemand da war.« Sharon beobachtete mich weiter – oder vielleicht sollte ich sagen, sie
durchleuchtete mich
, denn ihre braunen Augen bewegten sich langsam über mein Gesicht, vermutlich demselben methodischen Raster folgend, das sie bei einer breitangelegten Suchaktion anwandte.
    »Jetzt ist der Moment, wo ich dich frage, wozu du diese Informationen brauchst«, sagte sie.
    »Unerledigte Geschäfte. Braucht dich nicht zu kümmern.«
    Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Weißt du, was Konfuzius sagt?«
    »Hilf mir auf die Sprünge.«
    »›Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber.‹«
    »Ich fand chinesische Weisheiten immer schon überschätzt.« Ich holte einen Umschlag hervor und gab ihn ihr. Er enthielt dreitausend Dollar in bar. Sie stopfte ihn in ihre Tasche und schloss den Reißverschluss.
    »Wie geht’s deinem Schäferhund?«, fragte ich.
    »Der ist vor drei Monaten gestorben.«
    »Das tut mir leid.«
    Sie strich sich ihren stacheligen Pony aus der Stirn und musterte einen älteren Mann, der gerade zugestiegen war.
    »Alles Gute hat ein Ende«, sagte sie. »War’s das?«
    Ich nickte. Sie schlang sich den Gurt ihrer Tasche über die Schulter und wollte gerade aufstehen, als mir noch etwas einfiel und ich sie am Handgelenk festhielt.
    »Was ist mit einem Abschiedsbrief?«, fragte ich.
    »Man hat keinen gefunden.«
    »Wer hat Ashley im Leichenschauhaus identifiziert?«
    »Ein Anwalt. Die Familie hat sich nicht geäußert. Ich habe gehört, sie sind gerade im Ausland.
Auf Reisen.
«
    Mit einem Blick, der Bedauern, aber wenig Überraschung ausdrückte, stand sie auf und ging nach vorne. Der Busfahrer fuhr sofort rechts ran. Sekunden später huschte sie den Bürgersteig entlang, doch sie ging weniger, als dass sie
pflügte
, die Schultern hochgezogen und die Augen fest auf den Boden gerichtet. Als der Bus mit einem Rülpsen weiterfuhr, wurde Sharon zu einem bloßen Schatten, der sich an den geschlossenen Läden und vergitterten Fenstern vorbeibewegte und zügig um eine Ecke bog – dann war sie verschwunden.
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7
    »Wär ist da?«
    Die Frauenstimme tönte krächzend und mit schwerem russischem Akzent aus der
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