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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht
Autoren: Marisha Pessl
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steckte die Decke fester.
    »Soll ich das Licht anlassen?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. Sie war das einzige Kind auf der Welt, das keine Angst vor der Dunkelheit hatte.
    »Schlaf gut, Süße. Ich liebe dich mehr als – wie sehr noch mal?«
    »Mehr als Sonne plus Mond«, antwortete sie schläfrig und schloss die Augen. Sie schien augenblicklich einzuschlafen, wie durch Magie.
    Ich ging wieder nach unten. Die CD lief noch, die Musik war sprunghaft und wild. Ich saß an meinem Schreibtisch und las den Amherst Artikel noch einmal.
    Da vergisst man für eine Weile seinen Namen
, hatte Ashley gesagt.
    Sie musste Cordova meinen.
    Er stellt irgendwas mit den Kindern an.
Was hatte er mit seiner eigenen Tochter angestellt? Wie konnte es dazu kommen, dass sie mit vierundzwanzig Jahren tot war, sich offenkundig selbst umgebracht hatte?
    Ich merkte, wie es wieder anfing – wie von Cordova ein dunkler Sog ausging. Meine Wut auf ihn war noch nicht erloschen, aber dies war meine Gelegenheit zur Absolution. Wenn ich mich noch einmal an ihn ranhängen und beweisen könnte, dass er
tatsächlich
ein Raubtier war – was mir mein Bauchgefühl gesagt hatte –, würde vielleicht zurückkommen, was ich verloren hatte. Vielleicht nicht Cynthia, das durfte ich nicht erhoffen, aber meine Karriere, mein Ruf, mein Leben.
    Und anders als vor fünf Jahren hatte ich jetzt eine Spur:
Ashley
.
    Es war etwas Brutales daran, zu begreifen, dass diese Fremde, diese wilde Zauberin der Töne, aus der Welt verschwunden war. Sie war verloren, man hatte sie verstummen lassen – ein weiterer toter Ast an Cordovas verkrüppeltem Baum.
    Sie könnte sein empfindlicher Zugang sein.
    Das war eine verdeckte Taktik, die in Sunzis
Die Kunst des Krieges
beschrieben wird. Der Feind erwartete, dass man ihm direkt entgegentrat. Darauf war er vorbereitet, und er würde sich erbittert zur Wehr setzen, was zu massiven Verlusten, der Verschwendung wichtiger Ressourcen – und letztlich zur eigenen Niederlage führen konnte. Aber manchmal gab es einen anderen Weg, den
empfindlichen Zugang
. Der Feind rechnete nicht mit einem Angriff auf diesem Wege, weil er labyrinthisch und tückisch war, und oft auch, weil er ihn gar nicht kannte. Doch wenn die eigene Armee es dort hindurch schaffte, führte dieser Weg nicht nur hinter die feindlichen Linien, sondern in seine innere Kammer, sein empfindliches Herz.
    Das ist ein Bandwurm, der seinen eigenen Schwanz gefressen hat
, hatte mich der alte Journalist vor bestimmten Nachforschungen gewarnt.
Es bringt nichts, ihm nachzustellen. Er wird sich bloß um dein Herz schlingen und das Blut herauspressen.
    Nein, ich fand nie heraus, was mit ihm passierte – aber ich wusste es. So sehr er auch gemotzt hatte, am nächsten Morgen war er aus dem Bett geklettert, hatte seine Taschen gepackt und war mit dem Bus direkt in das verfluchte Dorf gefahren. Das war so sicher wie der Sonnenaufgang.
    Er konnte sich von dieser Geschichte einfach nicht fernhalten.
    Ich konnte es auch nicht.

6
    Zwei Tage darauf stieg ich um 03 : 00  Uhr in den M 102 -Bus Richtung Harlem – Nr.  5378 , genau wie Sharon Falcone mich instruiert hatte – und setzte mich auf einen einsamen Platz hinten im Bus.
    Wenn es in dieser Stadt einen Ort gab, wo geflüsterte Gespräche und verdächtige Blicke nicht beachtet wurden, dann war es dieser Bus um drei Uhr nachts. Die wenigen Fahrgäste waren entweder todmüde, zugedröhnt oder selbst in zwielichtige Geschäfte verwickelt – man konnte also sicher sein, dass sie genauso unerkannt bleiben wollten wie man selbst. Ich habe nie verstanden, wie Sharon das hinbekommen hat, aber jetzt hätte ich schwören können, dass es derselbe Fahrer war wie beim letzten Mal, vor gut neun Jahren.
    Zum ersten Mal war ich Detective Sharon Falcone 1989 begegnet, als ich ein naiver Reporter für die
New York Post
war und sie eine Polizeianfängerin, die beim Central Park Jogger-Fall aushalf. Auch jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, wusste ich nur wenig über sie, aber dieses wenige reichte aus, wie eine kleine Prise Cayennepfeffer im Essen. Sie war sechsundvierzig und lebte mit einem Deutschen Schäferhund namens Harley allein in Queens. Seit zehn Jahren arbeitete sie für die Mordkommission Manhattan Nord, eine Spezialeinheit, die andere Reviere bei Ermittlungen zu Morden unterstützte, die nördlich der 59 th Street verübt wurden. Sie diente ihren Mordopfern mit einer Hingabe, die in ihrer Selbstlosigkeit und ihrem
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