Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht
Autoren: Marisha Pessl
Vom Netzwerk:
Gegensprechanlage.
    »Scott McGrath«, wiederholte ich und neigte mich zu der winzigen schwarzen Kamera über der Klingelanlage vor. »Ich bin ein Freund von Wolfgang. Wir sind verabredet.«
    Das war gelogen. Nachdem ich am Morgen Ashley Cordovas Polizeiakte gelesen hatte, hatte ich drei Stunden lang versucht, Wolfgang Beckman ausfindig zu machen: Filmwissenschaftler, Professor, fanatischer Cordovit und Autor von sechs Büchern über das Kino, darunter ein populärer Schinken über Horrorfilme,
Die amerikanische Maske
.
    Ich hatte es in seinem Sekretariat in der Dodge Hall der Columbia University versucht und seinen Stundenplan erhalten. Darin erfuhr ich, dass er in diesem Semester nur ein einziges Seminar gab, »Horror-Themen im Amerikanischen Kino«, dienstagabends um 19 : 00  Uhr. Ich hatte im Büro und auf seinem Handy angerufen, aber nur seine Mailbox erreicht, und in Anbetracht unserer
letzten
Begegnung vor mehr als einem Jahr – damals hatte er nicht nur die Hoffnung geäußert, ich würde in der Hölle verrotten, sondern hatte unter Wodkaeinfluss zweimal wild nach mir geschlagen –, wusste ich, dass er eher den Papst zurückrufen würde. (Es gab zwei Dinge, die Beckman wirklich verabscheute: die ersten drei Reihen im Kino und die katholische Kirche.) Hier aufzutauchen war meine letzte Option, in diesem heruntergekommenen Gebäude Ecke Riverside Drive und West 83 rd, wo ich viele Abende damit verbracht hatte, mir in dieser Maulwurfhöhle von Wohnung seine Vorträge anzuhören, in Begleitung seiner sechs Katzen und einer Gruppe Studenten, die jedes seiner Worte aufschleckten wie Kätzchen die Milch.
    Zu meiner Überraschung hörte ich ein Kratzen, und dann wurde ich mit einem lauten Summen eingelassen.
    Als ich an die Tür klopfte, die mit blinden Ziffern als Nummer  506 gekennzeichnet war, öffnete eine winzige Frau. Sie hatte kurzgeschnittenes schwarzes Haar, das auf ihrem Kopf saß wie die Kappe auf einem Stift. Sie war Beckmans neueste Haushälterin. Seit seine geliebte Frau Véra vor vielen Jahren an Krebs gestorben war, hatte Beckman, der völlig unfähig war, für sich selbst zu sorgen, eine Vielzahl zierlicher russischer Frauen angestellt, um das für ihn zu tun.
    Sie waren allesamt klein, streng und mittleren Alters, mit blauen Augen, rissigen Händen, Haaren, die in künstlichen Bonbonfarben gefärbt waren und bolschewistische
Denk nischt mal dran
-Persönlichkeiten. Vor zwei Jahren war es Mila in ihren stonewashed Jeans und strassbesetzten T-Shirts, die andauernd von einem Sohn zu Hause in Weißrussland erzählte. (Und wenn sie einmal nicht über Sergio sprach, ließ sich das meiste von dem, was sie sagte, in einem Wort zusammenfassen:
Nyet
.)
    Die Neue hatte eine Hakennase und trug rosa Spülhandschuhe und eine lange, schwarze Gummischürze, wie sie Schweißer in der Fabrik beim Schmieden von Stahl umbinden. Sie schien die Schürze zu tragen, um Beckmans Küche zu wischen.
    »
Sie
sind verabredet?« Sie begutachtete mich von Kopf bis Fuß. »Er ist bei
Zaanarrzt

    »Er hat mich gebeten, hier auf ihn zu warten.«
    Sie kniff skeptisch die Augen zusammen, aber schob die Tür auf.
    »Wollen Sie Tee?«, verlangte sie zu wissen.
    »Ja, vielen Dank.«
    Mit einem letzten missbilligenden Blick verschwand sie in der Küche, und ich ging durch den Flur ins Wohnzimmer.
    Es hatte sich nichts verändert. Die Wohnung war noch genauso dunkel und ungemütlich, es roch nach alten Socken, feuchten Wänden und
Katzen
. Die Fleur-de-Lys-Tapeten waren verblasst, die Decke bog sich durch wie die Unterseite eines Sofas. In Beckmans Wohnung hatte man immer das Gefühl, gleich würde Wasser durch den Holzfußboden nach oben steigen. Ich hatte noch nie ein Apartment gesehen, das so
gewienert
war – Beckmans Haushälterinnen waren jederzeit mit Wischmopp und Eimer, flaschenweise Reinigungsmittel und Desinfektionstüchern bewaffnet –, und trotzdem fühlte es sich an wie ein Scheißhaus in den Everglades.
    Ich schlenderte zum Kaminsims, auf dem einige Bilderrahmen aufgereiht standen. Auch sie hatten sich nicht verändert. Da war ein Farbfoto der freudestrahlenden Véra am Tag ihrer Hochzeit. Neben ihr stand ein signiertes Foto von Marlowe Hughes, der legendären Schönheit und Cordovas zweiter Ehefrau, dem Star aus »Kind der Liebe«. Daneben ein Bild von Beckmans Sohn Marvin, am Tag, als er seinen Abschluss in Jura feierte; er sah schockierend normal aus. Neben ihm: eine Standaufnahme aus Cordovas
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher