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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Heike Koschyk
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Schicksal niemanden ernsthaft berührte. Die Pocken, so hatte einer seiner Kommilitonen resümiert, rafften in wenigen Tagen mehr Menschen dahin, als man zählen konnte, und Kriege taten ihr Übriges, was zählte schon ein einzelner Mensch? Alles und nichts. Hufeland seufzte.
    In Leipzig studierten die Höfisch-Galanten, in Halle die Frommen und Fleißigen, in Wittenberg wurde die Freundschaft über alles gestellt, er aber studierte mit den Jenaer Renommisten, die sich um die Ehre und akademische Freiheit schlugen, Professoren keinen Respekt zollten und Kommilitonen mordeten. Und es gab niemanden, der sich an diesen Zuständen zu stören schien.
    Das Plätschern eines Baches holte ihn aus seinen Gedanken. Sie hatten eine große Lichtung erreicht, die an den Wochenenden von Ausflüglern gern aufgesucht wurde. Und auch heute saßen bereits drei verstreute Grüppchen auf ausgebreiteten Decken. Eines, aus mehreren Damen und Herren in feinstem Sonntagsstaat bestehend, hatte seine Dienerschaft dabei und ließ sich Pasteten und Wein aus silbernen Bechern servieren.
    »Wo ist der Korb?«, fragte Hannchen und spannte ihren eleganten Sonnenschirm. »Wir haben ihn doch nicht vergessen?« Sie sah so glücklich aus, hatte die Nachricht von dem furchtbaren Todesfall sie nicht erreicht?
    »Nein, meine Liebe.« Weber sprang vom Kutschbock und reichte Hannchen die Hand, während Hufeland den Korb aus der rückwärtigen Ablage hob.
    Sie suchten sich einen schattigen Platz nahe dem Bach und breiteten eine grobe Decke über das Gras.
    Hufeland setzte sich ein wenig abseits und beobachtete die versteckten Berührungen, die das noch nicht lange vermählte Paar |34| austauschte, während sie Essbrettchen und allerlei Speisen aus dem Korb packten und auf der Decke verteilten: Wurst und fetten Schinken, Käse, Trauben und würziges Brot. Ihm fiel auf, dass sich Hannchens Bauch leicht wölbte. Nun erkannte er auch den Grund für ihr Strahlen.
    Weber bemerkte seinen Blick. »Was macht das Studium?«, fragte er und schnitt eine dicke Scheibe vom Laib.
    »Oh, die Vorlesungen sind sehr interessant.«
    »Vor allem die des Professor Loder, nicht wahr?« Er zwinkerte ihm zu.
    Hufeland ahnte, worauf sein Schwager hinauswollte. Für einen Theologieprofessor, selbst für einen fortschrittlichen wie Weber, musste die Errichtung eines von Ärzten betreuten Geburtshauses einer Sünde gleichkommen. Er ignorierte die Anspielung. »Professor Loder ist ein fabelhafter Lehrmeister. Gerade lernen wir die Grundlagen der Osteologie anhand einer beeindruckenden Sammlung anatomischer Präparate.«
    »Ein eher trockenes Vergnügen …«
    »Für den Winter versprach er uns die Unterweisung anhand einer Leiche.«
    Beinahe unmerklich verzog Weber den Mund, während Hannchen den Verlauf des Gesprächs zum Anlass nahm, ihr halbvolles Brettchen beiseitezulegen, sich zu erheben und am Rande des Bachlaufs ein paar Wiesenblumen zu pflücken.
    Weber sah ihr nach, griff dann nach einem Stück Käse, das sie hatte liegen lassen. »Sie interessieren sich für das Sezieren?«, fragte er kauend. »Wie nur sollen die armen Seelen mit zerschnittenem Fleisch wiederauferstehen?« Es klang streng, doch seine Augen zeigten, dass ihn dieser Gedanke amüsierte.
    Hufeland schmunzelte. Er mochte Weber, seine ruhige Gesellschaft, und verspürte eine plötzliche Verbundenheit. »Danke, dass Sie mich zu diesem Ausflug eingeladen haben«, flüsterte er.
    Weber reichte ihm einen Becher mit Wasser, wohl, um die seltsam vertrauliche Stimmung dieses Augenblicks zu übergehen. »Das ist doch selbstverständlich. Als Mann Ihrer Schwester.«
    |35| »Meiner Lieblingsschwester!« Hufeland lächelte und leerte den Becher in einem Zug.
    Sie aßen und sprachen über das von England kommende Gerücht, dass James Cook bei seiner letzten Expedition von Wilden ermordet und in hundert Teile zerstückelt worden sei. Eine freundschaftliche Diskussion entbrannte, ob der Mensch sich von den Tieren nur durch das Denken unterscheide und unzivilisierte Wilde eher zu den Tieren gerechnet werden müssten. Zeigten sie doch ähnlich enthemmt und unreflektiert jegliche Emotionen, wollte man den Reiseberichten Rousseaus Glauben schenken. Als sie schließlich übereinkamen, dass Gott alle Menschen, auch die wilden, den Tieren voranstelle, man aber einen Unterschied innerhalb des Menschengeschlechts in Erwägung ziehen müsse, war auch die letzte Traube gegessen und man lehnte sich zurück, um die Vorzüge der Zivilisation zu
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