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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Heike Koschyk
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genießen.
    Hufeland spürte die feuchte Wärme des Bodens. Er verschränkte die Arme unter seinem Kopf, beobachtete einen Vogelschwarm, der über den Baumwipfeln Kreise zog, und dachte an den vergangenen Abend. An die johlende Menge, an das Entsetzen. Wenn aber selbst in einer Universitätsstadt, im Herzen der Zivilisation also, Menschen zu Wilden werden konnten, bedeutete es dann nicht sogar, dass sich die wilden und die fortschrittlicheren Menschenrassen nicht unähnlich waren? Lag der eigentliche Unterschied gar nur in den geschliffenen Worten und in der Wahl der Kleidung?
    Er seufzte, schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken auf die schönen Dinge zu lenken. Er lauschte dem Rauschen der Blätter, die sich im sanften Wind bewegten, dem leisen Plätschern des Baches, dem Singen der Vögel. Die Luft roch nach Wildblumen und mulchigem Gras.
    Seine Gedanken begannen abzuschweifen. Szenen johlender Studenten, die Wilden gleich barfuß durch Jena zogen, ihre Degen schwingend, trudelten durch sein Hirn. Verdichteten sich zu einem grauenhaften Bild archaischer Tötungsriten. Er rannte, doch er kam nicht voran. Er wollte schreien, doch ihm entfuhr nur ein Wimmern.
    |36| »Christoph?«
    Hufeland schrak auf. Sein Herz raste, er rang nach Luft. Er musste eingeschlafen sein.
    Weber hatte sich neben ihn gesetzt und blickte ihn besorgt an. Hannchen war nicht zu sehen, erst später entdeckte er sie bei einem entfernten Grüppchen, gestikulierend, lachend.
    »Ich muss geträumt haben.«
    »Christoph, waren Sie gestern Nacht Zeuge des Unglücks?«
    Die Frage kam so unvermittelt, dass er erschrak. »Woher …«
    »Ich sehe es Ihnen an.«
    Hufeland kaute an seiner Unterlippe, bis er Blut schmeckte. »Ja«, flüsterte er und merkte plötzlich, wie wohl es ihm täte, mit jemandem darüber zu sprechen. »Ich stand nicht weit davon entfernt. Wissen Sie, Ernst, ich habe schon des Öfteren großes Leid gesehen, sah Menschen sterben in Krankheit und Kampf. Aber niemals war ich Zeuge einer solch rohen Gewalt.« Er atmete tief ein. »Waren Sie auch anwesend?«
    Sein Schwager schüttelte den Kopf. »Ich hörte davon, als ich vom Abendspaziergang heimkehrte. Eine furchtbare Geschichte. Ich kannte Albert Steinhäuser als einen sehr aufgeweckten jungen Burschen.«
    »Und der andere? Wer war dieser Mann, der Albert getötet hat?«
    »Es war einer meiner Schützlinge. Carl Lohenkamp, Student der Theologie.« Weber sah ihn unverwandt an.
    »Ich …« Hufeland stockte. »Das hatte ich nicht erwartet.«
    »Ein Heißsporn. Da sehen Sie den Unterschied zwischen braven Bürgern, die an Gott und seine Weisungen glauben, und Studenten der Theologie, die vom Vater geschickt wurden, um eine gute Stellung zu ergattern.«
    »Ein Heißsporn …«
    »Ja, Christoph. Lassen Sie es gut sein. Es gibt Dinge, denen sollten wir nicht nachgehen.« Er zögerte, schien noch etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren.
    Weber wandte sich ab, schob die Reste des Essens zusammen und legte Brettchen und Becher zurück in den Korb. Dann stand er |37| auf, die Hände in die Hüften gestemmt, mühsam gefasst, und sah nach seiner Frau. Hufeland fragte sich, ob er sich persönlich für die Moral seiner Studenten verantwortlich fühlte. Ein Student der Theologie, was bedeutete es schon, dachte er, um eine Erklärung bemüht, nicht jeder, der Gott anrief, hörte auch, was er sagte. Beispiele gab es zuhauf.
    Er beobachtete, wie Weber Hannchen zu sich winkte und ihr den gewaltigen Strauß Wiesenblumen abnahm, den sie gepflückt hatte. Dann half er seiner Frau auf die schmale Bank des Einspänners, schüttelte das Gras aus der Decke und legte sie über ihre Beine.
    Die Sonne sank langsam hinter die Wipfel der Bäume und hinterließ eine dunstige Kühle. Hufeland drehte sich noch einmal um, starrte auf die länger werdenden Schatten und schlug fröstelnd die Arme um seinen Körper. Dann hob er den Korb und stemmte ihn in die Ablage. Der Sommer, mit all seiner Hitze und Schwüle, schien nun endgültig vorbei.

|38| 2
KÖNIGSBERG
27. BIS 28. SEPTEMBER 1780
    Helene Steinhäuser raffte den mehrlagigen Unterrock ihres Kleides und ließ die Beine baumeln. Um sie herum schleppten breitschultrige Männer Kisten und Säcke, in der Nähe ertönte ein Poltern, dann ein Fluchen. Irgendjemand gab lautstark Anweisungen. Niemand schien von der jungen Frau Notiz zu nehmen.
    Mit zusammengekniffenen Brauen sah Helene die Pregel hinauf, dorthin, wo der Fluss hinter der Windung in
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