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Die Akte Veden

Die Akte Veden

Titel: Die Akte Veden
Autoren: Melanie Meier
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musste Chest wieder grinsen. Er vermerkte zufrieden, dass er keine Mühe hatte, diesem Blick standzuhalten.
    »Niemals im Leben wäre ich draufgekommen, dass du ein Lehrer bist.«
    Der Mentor erwiderte das Lächeln, sein Blick allerdings wurde dabei nicht weicher. »Bin ich auch nicht. Ich bin ein Mentor , Chest. Dein Mentor.«
    »Wo liegt der Unterschied, du elender Mistkerl?«
    »Lehrer sind Kleingeister, die Wissen vermitteln. Mentoren vermitteln Weisheit.«
    »Ich sollte dir jetzt gleich den Schädel einschlagen.« Chest musterte sein Gegenüber wieder für ein paar Sekunden. »Wie alt bist du, Mann? Zwanzig?«
    »Einundzwanzig. Und umso öfter du mir androhst, mich umzubringen, desto unwahrscheinlicher wird es.«
    »Du gehörst zum Feind, du jämmerlicher Heuchler.«
    »Ich habe diesen Job erst seit vorgestern, seit ich wusste, dass du dich für Imagination angemeldet hast. Und ich werde nur dich unterrichten, sonst niemanden. Und solange wir in diesem Mentor-Schüler-Verhältnis stehen, solltest du dich darum bemühen, mich entsprechend anzusprechen. Sir Vaira , nicht Bastard oder Mistkerl.« Wieder das Grinsen.
    ›Wie du willst, Arschloch. Aber in Gedanken tue ich, was ich will. Hora .‹
    »Ist mir total gleichgültig, was du in Gedanken tust, Chest. Lass uns jetzt anfangen.« Hora beugte sich ein wenig über das Pult und schaute seinem Schüler in die Augen.
    Chest sah, dass seine Hände und Arme gegürtet waren. Die langen, schlanken Finger Horas waren schwielig und vernarbt.
    »Nichts Wirkliches kann bedroht werden«, begann Hora. »Nichts Unwirkliches existiert. Die Wahrheit ist unveränderlich, ewig und unzweideutig. Sie kann unerkannt sein, aber sie kann nicht verändert werden.«
    Schweigen folgte. Chest starrte Hora an.
    ›Du bist noch irrer als erwartet‹, dachte Chest, und laut: »Warst du… Waren Sie überhaupt als Schüler an dieser Schule, Sir ?«
    »Konzentrier dich auf das, was ich sage. Wenn ich eine Pause mache, sollst du darüber nachdenken, nicht sprechen. Du sprichst nur, wenn du aufgefordert wirst.« Hora lehnte sich zurück. »Die Wahrheit ist unveränderlich, ewig und unzweideutig. Sie kann unerkannt sein, aber sie kann nicht verändert werden«, wiederholte er. »Schreib mit. Das würde ich dir raten.«
    Chest seufzte. Er richtete sich im Sitzen auf, packte den Block und den Stift und begann, zu schreiben: Hora ist ein Arschloch. Ich werde ihn für diesen Verrat langsam ausbluten lassen. Daraufhin hob er den Kopf, spähte zu seinem Mentor auf und grinste höhnisch.
    Hora verzog keine Miene. »Die Welt der Wahrnehmung ist die der Illusionen. In ihr sind Veränderungen, Zeit, Anfang und Ende existent. Diese Welt beruht auf Deutung, menschlicher Deutung, nicht auf Tatsachen.«
    Schweigen.
    Chest beugte sich über den Block und schrieb: Hora ist ein Mädchen. Bevor ich ihn umbringe, werde ich ihm die Haare blondieren.
    »Diese Welt wird gelernt , von außen an die Menschen herangetragen. Sie beruht auf Mangel, Verlust, Trennung und Tod. Sie zeichnet sich durch Spaltung des Ganzen aus, sie ist deshalb instabil und falsch in ihren Deutungen.«
    Schweigen.
    Chest schrieb: Hora steht auf kleine Jungs, deshalb unterrichtet er mich. Aber ich stehe nicht auf ihn.
    »Erkenntnis und Wahrnehmung, Chest. Das sind die zwei Pole, die große Dualität. Das eine ist Illusion, das andere die einzige Wahrheit. Welche von beiden ist nun die Wirklichkeit?«
    ›Meine‹, dachte Chest.
    »Genau das ist dein Fehler, mein Freund. Bevor du verstehen kannst, wovon wir hier in diesem Kurs sprechen, musst du deine Welt aufgeben können.«
    ›Oder du die deine‹, dachte Chest. ›Nimm schon mal Abschied.‹
    »Natürlich, die Wahrnehmung ist die unwirkliche Welt. Innerhalb der menschlichen Wahrnehmung herrscht Selektion vor. Man sortiert aus, sieht mal jenes für richtig an, mal dieses – man setzt Maßstäbe an. Sieh dich selbst an: Du sortierst die Leute in deiner Umgebung aus, und zwar einzig und allein anhand deiner Wertbestimmungen. Du schlägst um dich, wenn sie nicht deinem Musterbild entsprechen.«
    Chest schrieb: Gleich wird er zu weit gehen. Gleich… In seinem Kopf hörte er Hora kichern.
    »Welche Maßstäbe soll ich denn sonst ansetzen, Mann?«, fragte Chest. »Etwa deine? Was dann? Wohin wird mich das bringen? Du hast selbst gesagt, dass du nicht willst, dass ich werde wie du. Und jetzt erzählst du mir so einen Scheiß.«
    Hora starrte ihn nur an.
    Chest seufzte. »Sir«, sagte er
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