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Die Akte Veden

Die Akte Veden

Titel: Die Akte Veden
Autoren: Melanie Meier
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unwirsch.
    »Du musst mir zuhören«, antwortete Hora. »Du hast diesen Kurs belegt, weil du gemerkt hast, dass du eine einzigartige Begabung hast. Eine, die sehr selten unter den Outsidern vorkommt. Du willst wissen, wie sie funktioniert. Und ich bin der Einzige, der dir das näher bringen kann. Du hast also die Wahl: Bedrohe mich weiterhin, ja bring mich um, oder höre mir zu und lerne.«
    »Es gibt andere Imaginations-Mentoren.«
    »Es gibt auch andere Schüler.«
    Chest grinste. »Welche wie mich? Zum Beispiel?«
    Hora erwiderte den Blick nur, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen.
    Chest begriff. Er stieß einen Fluch aus, riss das voll geschmierte Blatt Papier aus dem Block, knüllte es zusammen und warf es über die Schulter. ›Leg los, Mann‹, knurrte er in Gedanken.
    »Aus Erkenntnis und Wahrnehmung gehen zwei unterschiedliche Denksysteme hervor. Das der Wahrnehmung kannst du beständig ändern. Das der Erkenntnis aber ist unveränderlich, es gibt keinen Graubereich, der neu ausgelegt werden könnte. Das Problem der Wahrnehmung ist, dass sie nur das ins Bewusstsein lässt, worauf der Wahrnehmende ausgerichtet ist. Wenn du die Farbe Blau nicht sehen kannst, weil deinen Augen die nötigen Rezeptoren fehlen, so wirst du sie nie wahrnehmen.«
    Chest sah nicht mehr auf. Er schrieb jetzt mit, notierte sich die Stichpunkte.
    »Daraus entsteht eine Welt der Illusionen, eine Welt, die ständiger Abwehr bedarf, eben weil sie nicht wirklich ist. Darum werden wir uns jetzt erst einmal mit der Wahrnehmung beschäftigen.« Hora schloss die Augen und begann, in Gedanken weiterzureden:
    ›Wir stellen uns jetzt eine Situation vor. Zwei Menschen, die gemeinsam etwas erleben. Ein junger Mann, der aus verschiedenen Gründen grausam, kalt und unnahbar geworden ist. Eine junge Frau, die verschiedene Hoffnungen in ihr Leben legt und den jungen Mann unglaublich gerne hat. Die beiden landen im Bett. Der junge Mann will nur ficken, nichts anderes interessiert ihn. Er will sie schreien hören. Sie sehnt sich nach Streicheleinheiten, sie will sich geborgen und geliebt fühlen. Sie ahnt, dass er nur vögeln will, er ahnt, was sie bewegt – Einfühlungsvermögen, Chest. Annäherung. Das alles bringt stets einen Mechanismus zum Laufen, der da heißt: Verstand, Gedanken.
    Er denkt: Scheiß drauf, sie ist selbst schuld, wenn sie mitmacht.
    Sie denkt: Vielleicht täusche ich mich, vielleicht ist er doch nicht so.
    So ungefähr könnten die Gedanken aussehen. Die Krux an der Sache ist: Einfühlungsvermögen ist eine der großen Illusionen. Niemals wird einer der beiden den anderen verstehen können, weil er schlichtweg nicht er ist.
    Selbst, wenn sie sich ganz offen von ihren Beweggründen erzählen würden, würde es nichts bringen. Worte sind subjektiv. Wenn ich das Wort ›Ficken‹ in einem Roman verwende, legt der eine Leser dieses Buch naserümpfend, vielleicht sogar aufgebracht zur Seite, während ein anderer dieses Wort als Anstoß nimmt, weiterzulesen.
    Die beiden gehen also danach auseinander. Wenn du sie jetzt nach ihren Erlebnissen fragen würdest, würden sie dir beide ganz unterschiedlich davon erzählen. Jeder in seinen Worten, jeder in seiner Wahrnehmung.
    Er würde dir vielleicht erzählen: So habe ich noch kein Mädchen zum Schreien gebracht.
    Schauen wir uns das an. Warum könnte er so drauf stehen, dass sie schreit? Was meinst du?‹
    Chest hatte aufgehört, mitzuschreiben. Er saß nur da und hörte der Stimme in seinem Kopf zu. »Weil er dominieren will? Was weiß denn ich!«
    Hora rührte sich nicht. ›Der zweite Satz war gut. Die Antwort kennen wir nicht, und wir werden sie eventuell nie erfahren. Das liegt noch außerhalb unserer Fähigkeiten. Wir könnten jetzt anfangen, zu rätseln. Das ist das mit den Gedanken: Sie lassen sich drehen und wenden, unendlich drehen und wenden. Vollkommen nutzlos. Du kannst mir folgen, ja?‹
    ›Ja.‹
    ›Wunderbar. Was meinst du, wie passt jetzt dieser Satz in all das, was ich bisher gesagt habe: Der Kerl konnte nur das in ihr erkennen, was er in sich selbst trägt ?‹
    Es folgten einige schweigsame Minuten.
    Chest starrte Hora an. Zum ersten Mal an dieser Schule fühlte er sich unbehaglich. Er wusste, dass dieser Satz richtig war, aber konnte es einfach nicht erklären. Er spürte, wie Zorn in ihm aufstieg.
    Hora öffnete ein Auge, spähte zu Chest hinüber, schloss es wieder und grinste ein wenig. »Keine Antwort?«
    »Nein«, gab Chest murrend zu.
    »Könnte daran liegen,
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