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Die achte Offenbarung

Die achte Offenbarung

Titel: Die achte Offenbarung
Autoren: Karl Olsberg
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längst in ein Pflegeheim. Andererseits würde ihr Alzheimer ohne die vertrauteUmgebung wahrscheinlich noch rascher voranschreiten.
    Paulus schauderte. Was für eine schreckliche Vorstellung, dass sich ein ganzes Leben voller Erinnerungen allmählich in Vergessen auflöste!
    Frau Zacharias hatte inzwischen ihren Koffer abgestellt und ein altes Fotoalbum aus dem Wohnzimmerschrank geholt. Sie winkte Paulus zu sich. »Sehen Sie mal, junger Mann, das ist er, mein Franz. Ist er nicht ein schmucker Bursche?«
    Paulus nickte. Er setzte sich zu ihr, während sie ihm erzählte, wie sie ihren Franz auf einem Schützenfest im Sauerland kennengelernt hatte.
    Zwei Stunden später saß er immer noch dort. Er hatte es nicht fertiggebracht, die alte Dame in ihren Erinnerungen zu unterbrechen. Während sie jetzt von ihren beiden Töchtern erzählte, das Fotoalbum auf ihren dünnen Knien, wirkte sie vollkommen klar.
    Paulus blickte verstohlen auf die Uhr. Halb neun. Seit einer halben Stunde hätte er beim Treffen der Aktionsgemeinschaft »Historiker für den Frieden« sein sollen.
    Er war wie viele seiner Fachkollegen überzeugt, dass sich vor allem Politiker mehr mit Geschichte befassen sollten. Dann würden sie sehr schnell begreifen, dass ihre Machtspielchen gefährlich waren und nur allzu leicht in die Katastrophe führen konnten. Wie viele Kriege waren schon ausgebrochen, weil jede Seite ihre eigene Stärke überschätzt und die Entschlossenheit des Gegners unterschätzt hatte! Wie sinnlos waren diese Gemetzel gewesen, hatte doch kaum je ein Krieg einer der beiden Seiten unter dem Strich tatsächlich einen Vorteil gebracht.
    Die Aktionsgemeinschaft hatte es sich zum Ziel gesetzt, Aufklärungsarbeit zu betreiben. Statt historisches Wissenin Museen und Gedenkstätten verstauben zu lassen, wollte sie es in spektakulären Aktionen zu den Menschen bringen – und in die Medien. Auf dem letzten Treffen war die Idee entstanden, vor dem Hamburger Rathaus einen Pranger aufzustellen, in dem eines der Gruppenmitglieder symbolisch für die Sünden der Politik bestraft werden sollte. Man war sich nur nicht einig geworden, wer den Sünder spielen sollte.
    Bisher war die Aktionsgemeinschaft nicht über Stammtischdiskussionen hinausgekommen, und Paulus vermutete, dass das auch auf absehbare Zeit so bleiben würde. Die meisten Gruppenmitglieder zeigten, wenn es darauf ankam, nicht allzu viel Mumm und hatten stets eine Ausrede parat, warum sie an der nächsten geplanten Aktion leider nicht teilnehmen konnten.
    Dass Paulus trotzdem immer noch zu den Treffen ging, lag in erster Linie an Judith. Sie arbeitete am Archäologischen Institut der Universität und beschäftigte sich mit Frühgeschichte, von der Steinzeit bis zu den Feldzügen der Römer. Im Unterschied zu Paulus verbrachte sie ihre Zeit nicht über alten Dokumenten, sondern wühlte im Sand verschiedener Ausgrabungsstätten, was ihr einen braunen Teint einbrachte, der ihre blauen Augen umso heller strahlen ließ. Sie war hübsch, intelligent und hatte Humor, doch leider hatte sie bisher nicht auf Paulus’ dezente Annäherungsversuche reagiert. Aber vielleicht waren die ja auch ein wenig zu dezent gewesen.
    Wie auch immer, das Treffen musste warten. Er konnte Frau Zacharias nicht allein lassen und riskieren, dass sie wieder in ihren geistigen Dämmerzustand fiel.
    Um Viertel vor zehn öffnete sich die Tür. Frau Zacharias’ Tochter, selbst schon an die fünfzig Jahre alt mit einer rundlichen Figur und kurzen braunen Haaren, kam insWohnzimmer. »Oh«, sagte sie, als sie Paulus erblickte. »Entschuldigen Sie, ich …« Sie stockte.
    »Ich habe dem freundlichen jungen Mann von Franz erzählt und von dir, als du noch klein warst«, erklärte ihre Mutter.
    Paulus erhob sich. Als er an der Tochter vorbeiging, roch er Alkohol. Zorn wallte in ihm auf. Doch dann wurde ihm bewusst, was für ein Leben eine Tochter führen musste, die sich tagaus, tagein um ihre Mutter kümmerte.
    »Keine Ursache«, sagte er mit einem Lächeln. »Es hat mir Spaß gemacht, mit Ihrer Mutter zu plaudern. Wenn Sie wieder einmal jemanden brauchen, der für ein, zwei Stunden bei ihr bleibt, sagen Sie mir bitte Bescheid!«
    Die Tochter lächelte zurück. »Vielen Dank!«
    In dem kleinen Flur seiner Wohnung fiel sein Blick auf den Garderobenspiegel. Seine bereits graumelierten Schläfen unter dem dichten Schopf kurzen schwarzen Haars ließen ihn deutlich älter wirken als seine 29 Jahre und verliehen ihm eine Aura der
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