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Die achte Offenbarung

Die achte Offenbarung

Titel: Die achte Offenbarung
Autoren: Karl Olsberg
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mit wallendem schlohweißen Haar und tief herabgezogenen Koteletten stand vor ihm, mindestens siebzig Jahre alt. Er trug ein abgewetztes hellbraunes Jackett und eine graue Hose.
    »Haben Sie noch eine Frage? Ich muss nämlich in den nächsten Termin«, log Paulus, der keine Lust mehr hatte, über irgendwelche albernen Verschwörungstheorien zu diskutieren.
    Der Mann reichte Paulus die Hand. »Mein Name ist Aaron Lieberman«, sagte er mit starkem amerikanischen Akzent. »Ich würde gern Sie einladen zu Essen, morgen Abend in Hotel Atlantic.«
    Paulus sah den Mann verwirrt an. Er sah nicht danach aus, als verkehre er regelmäßig in Luxushotels. »Ich verstehe nicht …«
    »Ihre Großmutter ist Klara Brenner, right?«
    Paulus’ Verwirrung nahm zu. »Meine Großmutter ist schon lange tot. Sie starb im Zweiten Weltkrieg.«
    Lieberman nickte. »Ja, ich weiß. Sie hat geholfen meine Vater. Er ist gestorben letzte Monat, und ich habe etwas gefunden in seine Sachen. Etwas, das hat gehört Ihrer Grandma. Wenn Sie möchten, ich zeige es Ihnen, morgen Abend. Kommen Sie bitte in Hotel Atlantic um halb nach sieben. Ist das okay?«
    »Ja, das ist okay«, sagte Paulus, der immer noch verblüfft war.
    »Dann wir sehen uns«, sagte Lieberman und verließ den Hörsaal.
    Paulus packte seinen Laptop ein und ging zu Fuß vom Campus der Universität bis zu seiner kleinen Wohnung am Grindelberg, direkt gegenüber den monumental hässlichen Grindelhochhäusern. Während es rund um den Campus noch alte Villen und historische Gebäude gab, war weiter nordöstlich kaum ein Gebäude älter als sechzig Jahre. Hier hatten die Bombenangriffe im Rahmen der Operation Gomorrha im Sommer 1943 nur noch ein Trümmerfeld hinterlassen.
    Auf dem Weg dachte er darüber nach, was er über seine Großmutter väterlicherseits wusste. Viel war es nicht. Sie war unter ungeklärten Umständen während des Krieges in einem Arbeitslager gestorben. Sie hatte im Standesamt Hamburg-Wandsbek gearbeitet, bevor sie 1941 als Verräterin verhaftet worden war. Kurz darauf hatte sich ihr Mann, Paulus’ Großvater, das Leben genommen.
    Paulus’ Vater war damals zehn Jahre alt gewesen und von den Nazis in ein Erziehungsheim gesperrt worden. Er hatte sich jedoch nach eigener Aussage allen Indoktrinierungsversuchen der Lehrer widersetzt. Nach dem Krieg war aus dem Heim ein Internat unter englischer Leitung geworden, wo er Abitur gemacht hatte. 1956 war er in die frisch gegründete Bundeswehr eingetreten und hatte es bis zum Oberst gebracht. Paulus’ Mutter, die fünfzehn Jahre jünger war, hatte er erst im Alter von fast fünfzig geheiratet.
    Paulus’ Vater hatte nicht oft über seine Eltern gesprochen, aber wenn, dann voller Ehrfurcht. Für ihn waren sie Helden gewesen, die sich dem Terror des Dritten Reichs widersetzt hatten, auch wenn er nicht genau wusste, was sie getan hatten, um den Zorn der Gestapo auf sich zuziehen. Er hatte nach Kriegsende versucht, mehr über die Hintergründe zu erfahren, doch die entsprechenden Akten waren von den Nazis vernichtet worden.
    Paulus war gespannt darauf, was der Amerikaner über dieses dunkle Kapitel seiner Familiengeschichte wusste. Leider war sein Vater vor einigen Jahren an Lungenkrebs gestorben, so dass er es nicht mehr erfahren würde.
    Als er den Flur des schmucklosen Mehrfamilienhauses betrat, traf er dort die alte Frau Zacharias aus dem dritten Stock. Sie trug ein helles Kostüm und einen Hut, hatte sich grell geschminkt und hielt einen kleinen Koffer in der Hand.
    »Frau Zacharias! Was … was machen Sie denn hier?«
    »Mein Verlobter, der Franz, kommt gleich und holt mich ab«, sagte sie mit strahlendem Lächeln. »Wir fahren ans Meer!«
    Paulus seufzte. »Frau Zacharias, Ihr Mann Franz ist seit vielen Jahren tot«, sagte er sanft.
    Die alte Dame blinzelte. »Ach ja, stimmt«, sagte sie. »Das hatte ich ganz vergessen.« Sie sah sich in dem engen Hausflur um, als wisse sie nicht genau, wie sie hierhergekommen war.
    Er fasste sie am Arm. »Kommen Sie, ich bringe Sie in Ihre Wohnung. Ihre Tochter kommt sicher bald nach Hause.« Er führte sie die Treppe hinauf und half ihr, die Wohnungstür aufzuschließen.
    Ein Luftzug wehte ihm entgegen – die Balkontür stand sperrangelweit auf. Er schloss sie rasch. Es erschien ihm unverantwortlich, die verwirrte alte Dame so lange allein zu lassen. Was, wenn sie auf die Idee kam, sich etwas zu essen zu machen, und dann vergaß, den Herd auszuschalten? Wahrscheinlich gehörte sie
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