Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die achte Offenbarung

Die achte Offenbarung

Titel: Die achte Offenbarung
Autoren: Karl Olsberg
Vom Netzwerk:
stellen. »Sie haben selbst gesagt, dass die im Manuskript skizzierten Pflanzen auf der Erde nicht existieren. Könnte es nicht sein, dass es sich um außerirdische Pflanzen handelt?«
    Paulus unterdrückte ein Stöhnen. »Wie ich schon sagte, handelt es sich um ein Werk der Fantasie. Nicht alles, was in der Kunst dargestellt wird, ist real. Denken Sie etwa an die surrealistischen Gemälde eines Hieronymus Bosch.«
    Die nächste Frage kam von einer älteren Dame in einer pinkfarbenen Strickjacke: »Könnte es nicht sein, dass die Freimaurer das Dokument verfasst und darin das geheime Wissen der Alten verschlüsselt haben?«
    »Sie sollten nicht zu viele Verschwörungsthriller lesen«, sagte Paulus mit einem Lächeln. »Auch wenn die Freimaurer eine gewisse Geheimniskrämerei betreiben, bedeutet das noch lange nicht, dass alles, was rätselhaft ist, von Freimaurern stammt. Im Übrigen wurde die erste Freimaurerloge 1717 gegründet, ungefähr dreihundert Jahre, nachdem das Voynich-Manuskript geschrieben wurde.«
    Diesmal meldete sich einer der Studenten, die Paulus’ Seminar für mittelalterliche Kryptologie belegt hatten. »Herr Brenner, Sie sagen, dass das Manuskript ein Werk der Fantasie ist. Aber es enthält, soviel ich weiß, über hundert aufwändig gestaltete Seiten. Pergament war im Mittelalter sehr teuer, und es muss Jahre gedauert haben, eine eigene Sprache und Schrift zu entwickeln. Glauben Sie wirklich, jemand hat all diesen Aufwand nur zum Spaß getrieben? Ist es nicht so, dass im Mittelalter Bücher, insbesondere illuminierte Codices, praktisch immer nur als Auftragsarbeiten angefertigt wurden?«
    Endlich mal eine vernünftige Frage. »Das ist ein guter Einwand. Wie ich schon andeutete, kann ich das nicht abschließend beantworten. Aber ich vermute, dass der Schöpfer des Manuskripts eine große Leidenschaft dafür hegte. Man kann es vielleicht schon Besessenheit nennen. Ich stelle mir einen reichen Kaufmann oder Adligen aus Venedig, Florenz oder Pisa vor. Vielleicht litt er unter Schizophrenie und hatte Visionen der Dinge, die er aufgezeichnet hat. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er es einfach zum Spaß getan hat – so wie heute viele Menschen in ihrer Freizeit malen, Bücher schreiben oder Modelleisenbahnen basteln. Es gab damals zwar nicht viele Leute, die sich solche Freizeitbeschäftigungen leisten konnten, aber es gibt ja auch nichts dem Voynich-Manuskript Vergleichbares.«Paulus sah auf die Uhr. Die Vortragszeit war fast abgelaufen. »Wir haben noch Zeit für eine weitere Frage.«
    Mehrere Hände schossen nach oben, darunter auch der Spinner mit dem selbstgestrickten Pullover. Paulus wies auf einen Mann mit Glatze in der vorderen Reihe, der bisher stumm geblieben war. »Ja?«
    Der Mann räusperte sich. »Mein Name ist Eckard Grün vom Hamburger Morgenblatt«, sagte er. »Sie haben uns einen Vortrag darüber gehalten, dass Sie praktisch nichts über dieses Wotan-Manuskript herausgefunden haben, außer dass es pornografische Zeichnungen enthält.« Ein paar Zuhörer kicherten. »Unsere Leser würde interessieren, wie viele Steuergelder an Ihrem Institut für solche sogenannte Forschung ausgegeben werden.«
    Paulus wurde blass. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er die nackten Frauen überhaupt erwähnt hatte. »Das … das ist natürlich nur ein Nebenzweig unserer Arbeit. Das Hauptarbeitsgebiet des Instituts liegt in der Erforschung alter Dokumente, die die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der europäischen Städte im Mittelalter wiedergeben. Da einige dieser Dokumente verschlüsselt sind, beschäftigen wir uns quasi gezwungenermaßen mit mittelalterlicher Kryptologie und dabei eben auch mit dem Voynich-Manuskript.«
    Der Journalist schrieb etwas in ein spiralgebundenes Notizbuch. »Haben Sie nicht gerade gesagt, dass das Voynich-Manuskript gar nicht verschlüsselt ist?«
    »Das ist meine Theorie, ja.«
    »Aha«, sagte der Mann nur und machte sich eine weitere Notiz.
    Die Zuhörer standen auf und verließen den Raum, während Paulus niedergeschlagen seinen Laptop herunterfuhr.Der neue Institutsleiter war geradezu fanatisch, was sein Image in der Öffentlichkeit betraf. Er schien sich mehr für Marketing zu interessieren als für Geschichte. Wenn ein kritischer Bericht über Paulus’ Vortrag in der Presse erschien, konnte er die Verlängerung seines Vertrags als Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter vergessen.
    »Entschuldigen Sie bitte.«
    Paulus drehte sich um. Ein Mann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher