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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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hatten und über den Otopeni-Boulevard auf jene Stadt zufuhren, die mein Zuhause werden sollte.
    Als ich an der Reihe war, musste ich das bisschen Gepäck vorzeigen, das ich mitführte. Die beiden Zollbeamten waren das perfekte Paar. Der eine hatte ein vollkommen nichtssagendes Gesicht, der andere eines, in dem verschiedenste Mienen ergebnislos um die Vorherrschaft kämpften. Der erste sprach ein gebrochenes Englisch, der zweite rauchte Zigaretten aus den USA und sprach fließend mit amerikanischem Akzent. Wenn es bei der rumänischen Polizei eine Karriere auf der Überholspur gab, war er dafür prädestiniert – sehnig, ausdruckslos, undurchschaubar.
    »Was heißt Sie in Rumänien willkommen?«
    Eine gute Frage, die nach einer schlagfertigen Antwort verlangte, aber dies war wohl nicht der Moment, den rumänischen Sinn für Humor auf die Probe zu stellen. Der Beamte griff nach meinem Kaffee und zwei Schokoriegeln und ließ alles schwungvoll in seiner Tasche verschwinden. Er sah mir in die Augen, als er auch noch die Batterien meines Walkmans an sich nahm. Und als hätten die beiden irgendein System vereinbart, konfiszierte sein Kollege meine Stange zollfreier Zigaretten.
    »Steuer.« Er verzog keine Miene.
    Mein Taxi, ein weißer Dacia mit Tigerstreifen aus Rost und blauer, schlecht schließender Fahrertür, wurde von einem Mann gefahren, der die ganze Zeit schwieg, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte und der sich kein einziges Mal zu mir umdrehte. Beim Anflug hatte ich die Gegensätze, die Bukarest kennzeichneten, sofort erkannt: Streng geometrisch angeordnete, breite Straßen mit neuen Häuserblocks, Wohntürme und sinnlose Prachtbauten bestimmten die Skyline. Dazwischen und ringsumher gab es ein Sammelsurium aus alten Kirchen, verwinkelten Straßen und kleinen Parks. Und aus der Froschperspektive bot sich der gleiche Anblick wie aus der Vogelperspektive: Die Altstadt erschloss sich dem Betrachter in Schichten, das neue Zentrum in Linien.
    Bukarest war keine Stadt, die sich Vorort um Vorort in das Umland fraß, und das Umland wich auch nicht Schritt für Schritt dem urbanen Zentrum. Stattdessen gab es eine drei Kilometer lange, schadhafte, von Feldern gesäumte Straße, an deren Ende auf einmal Wohnblocks emporragten. Die Holperpiste glättete sich unter den Reifen, und ringsumher tauchte die Großstadt auf.
    Die Wohnung, die mich erwartete, war überraschend groß und elegant. Sie nahm den gesamten zweiten Stock eines Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert ein, das an der Aleea Alexandru in Herastrau stand, einem Viertel in der Altstadt, das bislang von Ceaușescus groß angelegter »Modernisierung« verschont geblieben war. Hier wohnten Apparatschiks, Diplomaten und Ausländer; hier würde ich wohnen, solange ich es ertrug, solange man mich ließ. In der ganzen Stadt wurden Kirchen abgerissen und alte Straßen zubetoniert. Aber in diesem Viertel konnte man sich einbilden, dass alles beim Alten bliebe, obwohl der Lärm von Neubau und Abriss ständig zu hören war.
    In einem Metallrahmen an der Tür steckte noch das Schildchen mit dem Namen des letzten Bewohners: »Belanger, Dr. F.« Mein Name stand auf einem Umschlag, der einen Schlüssel sowie die Aufforderung enthielt, großzügig mit allem umzugehen, was noch da war. Das Telefon war angeschlossen, Kühlschrank und Vorratskammer waren gut gefüllt. Die Schränke waren voller Kleidungsstücke, die mir passten, es gab Bücher und Schallplatten, die meisten davon nach meinem Geschmack, dazu Videorecorder und Fernseher. Mein Vorgänger war offenbar Hals über Kopf verschwunden. Oder hatte gewusst, dass ich kam. An einer Wand hing ein Plakat des 13. Parteikongresses: Ceaușescus Gesicht thronte wie eine Sonne über einem glänzenden Traktor, den sie mit ihren Strahlen überflutete. Daneben hing eine kleine, fein gearbeitete Ikone, die eine Verkündigungsszene zeigte. Sie wirkte alt und verwittert, die Vergoldung war abgeblättert, die Figuren gesichtslos und verblasst, aber die Rot- und Goldtöne glühten wie ein Feuer im Hintergrund. Die Ikone trug die aktuelle Jahreszahl, 1989, und war mit »Petrescu« sowie einem kleinen, orthodoxen Kreuz signiert, das mit einem Streichholz in die Farbe geritzt war.
    Es war achtzehn Uhr. Ich holte mir eines von Belangers Bieren aus dem Kühlschrank und ging auf den Balkon. Unter den Füßen spürte ich die heißen Fliesen, und ich setzte mich in einen ausgefransten Korbsessel, um die Straße zu beobachten.
    Ich hatte
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