Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
Vom Netzwerk:
seiner nicht darunter.
    Nun ist alles vorbei. Die Kamera zeigt die beiden Leichen. Die Gesichter sind unversehrt, die Einschusswunden sauber; die Kugeln haben den Schädel durchdrungen, der Hinterkopf klappt auf wie eine Kapuze, die der Wind vom Kopf weht. Sie liegt quer auf dem Bürgersteig, er ist auf den Knien gestorben, Oberkörper und Kopf zurückgelegt. Jemand zieht die Augenlider hoch, prüft den Puls.
    Dann scheint der Kameramann aus dem Gleichgewicht zu kommen, und man sieht einen Fleck blauen Himmels, eine makellose, azurblaue Weite, leer und leicht. Er fängt sich wieder, tut einen Schritt über die erste Leiche, dann über die zweite: Eine Nahaufnahme ihrer Hände, durch die Wucht der Schüsse voneinander getrennt. Was in Erinnerung bleibt, sind nicht die Gesichter der Toten, sondern ihre Kleider: Ihr fehlt ein Schuh, seine Astrachanmütze liegt neben ihm; die Handtasche, an die sie sich bis zum Schluss geklammert hat, hängt immer noch in der Beuge des Ellbogens.
    Bevor der Weihnachtspudding serviert wurde, überreichte Phillimore mir eine Grußkarte der Botschaft mit einer langen Telefonnummer. »Für Leos tragbares Telefon … Er hat mich gebeten, sie Ihnen zu geben. Sie können ihn gern von hier anrufen.« Er goss etwas Slibowitz über den Pudding und entzündete ihn mit einem Streichholz.
    Leo war aufgeregt und außer Atem, im Hintergrund hörte ich Radio und Fernseher.
    »Wo bist du?«, fragte ich.
    »In der Wohnung. Tja – deiner Wohnung. Alle sind hier, Ottilia und Iulia, und Ozeray ist auch gekommen. Vielleicht besucht uns auch noch der neue oberste Regierungsberater in politischen Fragen, Genosse Trofim. Ottilia schläft gerade, denn sie ist die ganze Nacht im Krankenhaus gewesen. Sie möchte gern, dass du zu ihr zurückkehrst. Sie scheint zu wissen, dass sie nicht für die Ausreise bestimmt war. Sie gehört hierher.«
    »Ja, ich weiß. Wie sieht es aus?«
    »Ein Gemetzel. Aber wir siegen.« Bei dem Wort wir horchte ich auf. »Und wo bist du ?«
    »Das müsstest du eigentlich wissen. Bei Phillimore. Wir sind beim Weihnachtspudding.«
    »Hat er dir Geld vorgeschossen? Prima. Du hattest ein paar Tage Zeit, dir alles durch den Kopf gehen zu lassen, aber du solltest zurückkehren … Zumal es jetzt sicher ist.«
    » Sicher? Was meinst du mit sicher ? Ich kann die Schüsse hören! Ich sehe den Scheiß, der im Fernsehen gezeigt wird! Scheint mir nicht gerade sicher zu sein … Was ist mit Stoicu, Vintul und den übrigen Schurken?«
    »Schüsse? Nein, das ist nur der Hall der Verbindung … Keine Ahnung, was mit Stoicu ist. Ich nehme an, er hält sich bedeckt. Vielleicht taucht er irgendwann wieder auf, aber solange Manea am Ruder ist, droht keine Gefahr.« Sein Ton änderte sich. Ich ahnte, dass er sich nach möglichen Zuhörern umsah, dann hörte ich, wie er in ein anderes Zimmer ging, die Stimme senkte. »Vintul wird allerdings nicht wieder auftauchen. Das ist erledigt.«
    » Erledigt? Was soll das heißen?«
    »Sagen wir einfach, dass ich es von jemandem erfahren habe, der es wissen muss – der Leutnant und ein paar seiner Leute haben sich um ihn gekümmert. Er wurde zusammen mit ein paar Securitate-Arschlöchern gestellt, und wie man so schön sagt: Das Volk hat kurzen Prozess mit ihm gemacht .«
    Das hieß übersetzt, dass Manea Leo gesteckt hatte, wo Vintul zu finden war, und dass Leo dies weitergegeben hatte. Während einer Revolution gab es viele Möglichkeiten, alte Rechnungen zu begleichen – Maneas, Ottilias, Leos. Und, wie es schien, auch meine.
    »Hallo? Bist du noch dran?«, brüllte Leo. »Also – was hast du vor? Ich zähle dir mal auf, was du hier verpasst …«
    »Die Worte kannst du dir sparen, Leo.«
    Es gab einen Nachtzug nach Bukarest, und wenn er abfuhr, würde ich mitfahren. Einer der Vorzüge des Kommunismus bestand darin, dass an Weihnachten ganz normal gearbeitet wurde.
    Ich checkte aus dem Lasta-Hotel aus und ging mit Phillimore zum Bahnhof.
    Am Schalter verlangte ich eine einfache Fahrt nach Bukarest, zählte das Geld auf den Tresen. Die Angestellte sah erstaunt zu mir auf und bat mich, zuerst den Zielort und dann die Art der Fahrkarte zu wiederholen. Phillimore brachte mich zum Bahnsteig und reichte mir eine Tasche mit den Resten des Abendessens und einer Flasche Mineralwasser.
    »Grüßen Sie Leo von mir«, sagte er wehmütig. »Vielleicht sieht man sich ab jetzt ja öfter.«
    Zwei Bahnsteige weiter stand der Zug von Belgrad nach Brüssel. Die Menschen drängten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher