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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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die Fahrt vereinfachen, aber er hatte sich geirrt. Wir passierten den ersten Kontrollpunkt der Miliz, und vor dem Eingang der Abflughalle winkte uns ein Soldat nach einem Blick auf unsere Papiere durch. Man hinderte viele Menschen am Betreten des Flughafens, aber wir brachten auch die nächste Kontrolle problemlos hinter uns. Als wir im Terminal standen, glaubten wir, es geschafft zu haben – Ottilia gab Leo schon einen Abschiedskuss –, aber dann sah ich den Hinweis am Schalter der TAROM: Alle Flugzeuge hatten Startverbot. Die Schalter waren verwaist, die Angestellten verschwunden. Die einzigen Flugzeuge, die abheben durften, waren die von Air China und JAT, der jugoslawischen Fluggesellschaft. »Peking oder Belgrad – das ist die Wahl …« Ich drehte mich zu Ottilia um, aber sie war verschwunden. Drei Securitate-Agenten hatten sie aus der Schlange gezogen und prüften ihren Pass.
    »Scheiße!«, zischte Leo in mein Ohr. »Ich habe die Sache vermasselt. Ich dachte, als Russin würde sie durchkommen, aber das war falsch. Sie haben es vor allem auf die Russen abgesehen – das hätte ich ahnen müssen, verdammt! Sie sind Feinde des Regimes! Mist! Was habe ich da getan?«
    Ich hörte, wie Ottilia erst auf Russisch, dann auf überzeugend gebrochenem Rumänisch auf die Männer einredete. Sie sah zu mir, winkte mich weg. »Geh!«, hauchte sie, während man ihren Pass in ein Büro mitnahm.
    »Geh weiter!«, sagte Ottilia, als ich auf sie zuging. »Der Pass übersteht keine genaue Prüfung, und ich muss verschwinden, bevor sie wiederkommen.«
    »Sie hat recht«, sagte Leo. »Ich habe getan, was ich konnte – und ein chinesischer Pass kam nun einmal nicht in Frage. Sie muss hier weg. Nimm das.« Er gab mir ein Ticket für einen Flug nach Belgrad. Es war mir ein Rätsel, wie er sich durch die chaotischen Schlangen vor dem Schalter der JAT gekämpft hatte.
    »Ich bleibe«, sagte ich. »Ohne dich fliege ich nicht.« Ich nahm Ottilia beim Arm.
    »Doch.« Sie küsste mich, dann befreite sie sich aus meinem Griff. »Nimm das Ticket. Du musst jetzt fliegen. Sobald sich die Lage beruhigt hat, kehrst du zurück. Oder Leo besorgt mir einen besseren Pass, und ich komme nach. Geh jetzt …« Sie gab mir einen Stoß gegen die Brust und tauchte in der Menge unter, eilig gefolgt von Leo, der nach ihrer Hand griff.
    Ich stand wieder allein im Flughafen, genau wie vor acht Monaten. Am Schalter der JAT wurde mir mitgeteilt, dass ich meinen Koffer jetzt nicht mehr aufgeben könne, also ließ ich ihn auf dem Marmorfußboden stehen und ging zum Zoll, wo ich mich denselben zwei Dieben in Uniform gegenübersah, die mich bei meiner Ankunft ausgenommen hatten, aber nicht wiederzuerkennen schienen. Sie glichen mein in Kürze ablaufendes Visum mit einer Liste an der Wand ab, erleichterten mich um fünfzig Dollar und winkten mich durch. Das System zerfiel, aber hier, im Mikrokosmos der Zollstube, wurde weitergemacht wie gehabt.
    Belgrad war kalt und nass, und die Polizei war ebenso allgegenwärtig wie in Bukarest. Ich wählte das Hotel aufgrund seines Namens, der Preise und der Nähe zum Hauptbahnhof aus. Das Hotel Bukarest hatte allerdings nichts Rumänisches, außer man hielt das Fehlen von warmem Wasser, Erfrischungen und Heizung für landestypisch. Von meinem Fenster aus konnte ich die auf dem Bürgersteig angebotenen Speisen riechen, hörte den geschäftigen Lärm des Bahnhofs. Seit längerer Zeit war ich ohne Nachrichten, und deshalb machte ich mich auf die Suche nach einem Ort, wo ich etwas essen und mich auf den neuesten Stand bringen konnte. Im Bahnhofsrestaurant stand ein Großbildfernseher, und man berichtete über Rumänien. Fernsehteams aus dem Westen waren eingetroffen.
    Ceaușescu war im Hubschrauber entkommen, nachdem er am Nachmittag vergeblich versucht hatte, seine Truppen hinter sich zu scharen. Armeeeinheiten, die dem Präsidenten die Treue hielten, kontrollierten immer noch Fernsehsender und Telefonverbindungen, aber Radio Bukarest, das inzwischen in den Händen der Aufständischen war, sendete minütlich Nachrichten und Aufrufe. In Timișoara, Brasov, Cluj und anderswo waren Armee und Polizei übergelaufen; die Securitate und einige Militäreinheiten leisteten Widerstand. Man reihte bereits die Toten auf den Bürgersteigen auf, um sie zu identifizieren und zu betrauern. Nur in den Straßen Bukarests wurde nach wie vor erbittert gekämpft. Die Universitätsbibliothek stand in Flammen, die große Kuppel war geborsten,
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