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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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eine Gelegenheit zum Umziehen noch die Zeit gehabt, vor dem Abflug nach Hause zurückzukehren. Ich war mit Koffer und Handgepäck zur Beerdigung geeilt und hatte beides während des Gottesdienstes im Vorraum des Krematoriums abgestellt. Ich wollte nicht pietätlos sein – an diesem Tag hätte es eigentlich nur einen Abschied geben dürfen –, aber es kam alles zusammen: mein neuer Job, das neue Land, nicht umtauschbare Flugtickets. »Man trägt nicht jeden Tag seinen Vater zu Grabe«, hatte jemand vorwurfsvoll zu mir gesagt. Nein, aber wenn du wie ich jeden Tag darauf gewartet hättest, genau das tun zu können, wäre die Sache auch für dich heikel. Natürlich sagte ich das nicht. Ich nickte nur und sah zu, wie alle so taten, als würden sie beten, wie alle sich um diesen wehmütigen Blick bemühten, wie alle irgendetwas in sich suchten, das ihnen ermöglichte, später zu behaupten, sie hätten dem Tod ins Auge geschaut, ohne dabei an ihr Abendessen oder das Fernsehprogramm gedacht zu haben.
    Nach der Landung warteten wir, bis die VIPs ausgestiegen waren, Männer im strengen, grauen Anzug und mit Frauen, die aussahen, als würden sie aus einer Mischung aus Zement und Eiercreme bestehen. Ihr Gepäck wurde nicht kontrolliert und in anthrazitfarbenen Limousinen verstaut. Ich kannte diese Autos – Dacias, im staatlichen Werk nach Vorbild des Renault 14 mit Heckantrieb gebaut. Wie ich aus meiner spärlichen vorbereitenden Lektüre wusste, hatte dieser Name eine Bedeutung. Laut der von Ceaușescu offiziell genehmigten Lesart der Geschichte waren die Dakier Überlebende der Belagerung Trojas gewesen, arme Vettern der Römer, die von ihrem Stamm abgeschnitten waren und in Osteuropa eine Insel des Römertums gegründet hatten, von den Slawen umzingelt, von den Türken niedergemetzelt und nun ein Satellit in der finsteren Umlaufbahn der Sowjetunion.
    Es war April, aber wir landeten inmitten einer Hitzewelle. Draußen flimmerte alles. Der glitzernde Asphalt warf Falten, schwitzte das Öl aus, klebte unter den Schuhen. Hinter dem Flughafen erstreckte sich weites, flaches Land, von weißlichem Gras bedeckt, mit Maschendraht umzäunt. Ein Pferdepflug rumpelte dahin. Ein offenbar in eine Ackerfräse geratenes Tier lag zerstückelt in den Furchen. Aus der Luft hatten mich die gepflügten Felder an Notenblätter erinnert. Aus der Nähe betrachtet bestanden sie nur aus Erde, gewendet und wieder gewendet, Erde, die nie zur Ruhe kam, und alle, die sie bestellten, waren durch die Schufterei niedergedrückt und gekrümmt.
    Die Wagenkolonne der VIPs fuhr weg, wie es die Reichen und Mächtigen überall auf der Welt tun: ohne einen Blick zurück, auf zu neuen Taten.
    Das Aroma von Flughäfen: der scharfe Duft des Schwindels, Ausdünstungen von Staubsaugern, Parfüm und Rauch und schale Luft. Fein diffundiertes, verpufftes Flugzeugbenzin und verbranntes Ozon lassen den Himmel in einem unerhört klaren Blau erstrahlen.
    Der Otopeni-Flughafen bestand aus einem zweistöckigen Gebäude mit Spiegelglaswänden und rötlich geäderten Marmorfußböden; es gab zu viel Personal, doch es herrschte eine Friedhofsruhe. Diese Stimmung, in der sich Bedrohung und gereizte Trägheit mischten, war in allen öffentlichen Gebäuden Rumäniens spürbar. Der nächste Flieger, aus Moskau kommend, traf erst in zwei Stunden ein. Der vorherige, aus Belgrad, hatte schon vor einer Stunde wieder abgehoben. Dieser Flughafen war ein Ort der ewigen Ruhe, des ewigen Transits, ein Mittel des Übergangs, wie das Flugzeug, das ich gerade verlassen hatte. Aber solche Orte des Übergangs können einen besonders stark in Bann schlagen und vereinnahmen.
    »Willkommen in Rumänien«, verkündete eine dreifarbige Plakatwand. Die rumänische Flagge, blau, gelb und rot mit dem Parteiemblem in der Mitte, hing schlaff am Mast und zitterte in der schwächsten Brise. Hier gab es doppelt so viele Militärs wie Zivilisten. Frauen mit kniehohen Schnürsandalen schoben trockene Wischmopps über den Marmor, ordneten Kippen und Bonbonpapier zu neuen Mustern. Große, zylindrische Aschenbecher quollen über von ausgedrückten Zigaretten, und das, was an Luft noch übrig war, verschwand in einem Miasma aus blauem Dunst.
    Die Zollbeamten verrichteten ihren Dienst mit bösartiger Lethargie, gewannen den Qualen, die sie bereiteten, jedoch so wenig Befriedigung ab, dass sie der Mühe nicht wert zu sein schienen. Durch die Glaswände konnte ich sehen, dass die Dacias das Flughafengelände verlassen
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